Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer

Gauß, Karl-Markus, 2019
Bücherei Zams
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Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 1 (voraussichtl. bis 30.07.2024)
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-05923-8
Verfasser Gauß, Karl-Markus Wikipedia
Systematik BI - (Auto-)Biographien,Erlebnis-/Erfahrungsberichte
Schlagworte Alltag, Expedition, Österreich, Gegenstände, Europa, Erzählende Literatur: Gegenwartsliteratur ab 1945, Autobiografie, Welt, Alltagskultur, Dinge, privat, Schreibtisch
Verlag Paul Zsolnay Verlag
Ort Wien
Jahr 2019
Umfang 224 Seiten
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Karl-Markus Gauß
Annotation "Funkelnde Erzählstücke, ein kluges, geschichts- und geschichtensattes Buch-" (Manuela Reichart, Deutschlandfunk) - Karl-Markus Gauß begibt sich von seinem Zimmer aus durch verschiedene Zeiten und Länder

Abenteuer suchen viele in der Ferne, Karl-Markus Gauß findet sie in nächster Nähe: im Reich der Gegenstände. Er begibt sich auf eine Reise, für die er sein Zimmer nicht zu verlassen braucht, mit der er uns aber durch verschiedene Zeiten und viele Länder führt. Es sind stets die Dinge des Alltags, die er preist und in denen er die Vielfalt und den Reichtum der Welt entdeckt. Dadurch erfahren wir von tapferen und merkwürdigen Menschen, von entlegenen Regionen, unbekannten Nationalitäten und nicht zuletzt von den Vorlieben des Verfassers selbst. Karl-Markus Gauß, der Kartograph der Ränder von Europa, führt uns auf eine charmante, unterhaltsam lehrreiche Expedition in das unbekannte Gelände des Privaten.


Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Reinhard Ehgartner
Es entspricht der literarischen Herangehensweise von Essayisten, die Dinge in den Blick zu nehmen, sie von verschiedenen Seiten zu beleuchten und aus persönlicher Perspektive zu drehen und zu wenden. Lesend folgen wir diesen Annäherungen und freuen uns, wenn daraus eine neue Wahrnehmung, ein verändertes Schauen, eine neue Verknüpfung mit der Welt erfolgt.

Im neuen Buch von Karl-Markus Gauß gilt dieses Verfahren nicht nur im Aufgreifen der großen Themen unserer Welt, sondern auch für Tassen mit Städtewappen, Namensprägungen auf Brieföffnern oder Bleistiftspitzern im Form eines Globus. Und für Bücher sowieso - sie finden wir zahlenmäßig in der Größenordnung einer mittleren Öffentlichen Bibliothek ebenfalls in dieser Wohnung, in die uns der Autor einlädt, um sie uns in kleinen Details und größeren Zusammenhängen zu präsentieren.

Von Rückzug und Aufbruch:

Die Erzählbewegung der 38 versammelten Texte ist jeweils eine gegenläufige: Wurde man an eine räumliche Besonderheit oder einen Gegenstand erst einmal herangeführt, erfolgt unweigerlich der elegante wie unvermittelte Absprung in eine höhere Ebene - z. B. an ein historisches Geschehen, ein geistesgeschichtliches Phänomen oder einen kühnen sozialen Traum. Nicht als theoretische Erörterung, sondern jeweils getragen von Menschen mit Namen und individuellem Charakter. Das Kanapee, auf dem uns Gauß einen Platz anbietet, es wird zum Sprungbrett in geistes- und sozialgeschichtliche Gefilde und zugleich Ausgangspunkt persönlicher Begegnungen mit Menschen, Zeiten und Ideen.

"Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum", heißt es bei Hofmannsthal. So elegisch würde sich Gauß nicht erklären, er führt es lieber vor und beweist Individualität im konkreten Bennenen, im Unterscheiden und in der Sorgfalt des Denkens. Wer den kleinen Dingen wachen Blickes folgt, der endet unweigerlich bei den Menschen und ihren schönen, kühnen, absurden oder schrecklichen Träumen. So wird die kleine Welt zum Lesezeichen für die große, die kleine Geste zum Lebenszeichen großer Bewegungen in Geist, Kunst oder Politik. - Bei Karl-Markus Gauß lernt man lesen.

Mosaiksteine möglicher Gemälde:

Anfang der 1990er-Jahre erschienen Bücher wie "Das magische Auge", die mit dem Phänomen überraschten, dass man in den regelmäßigen Mustern der grafischen Oberfläche bei richtiger Distanz und hochkonzentriertem Blick plötzlich dahinterliegende Bilder in plastischer Eindringlichkeit sehen konnte. Weniger eindeutig, aber mit ähnlich erstaunlicher Wirkung arbeitet das von Karl-Markus Gauß entwickelte Verfahren, von der Oberfläche eigenständiger Texte in tiefere Zusammenhänge hinein zu führen und die LeserInnen so zu Akteuren im Verknüpfen der Bausteine zu machen.

Der Leser als Autor:

Setzt man die biografischen Einsprengsel und wiederkehrenden Motive zusammen, so könnte man folgenden Erzählbogen für einen Roman spannen:

1944 musste die Familie des Autors die Batschka verlassen. Bereits drei Jahre zuvor war der spätere Schwiegervater aufgrund der politischen Wirren um Südtirol aus Meran kommend in Salzburg gelandet. Es sind die Kinder von Vertriebenen, die mit ihren Herkünften und Familienerinnerungen Mitte der 1990er Jahre eine Wohnung in einer Salzburger Ceconi-Villa beziehen - erbaut von Baumeistern und Handwerkern aus dem Friaul, die es ebenfalls nach Salzburg zog.

Die zweigeschoßige Wohnung in Form eines ungedrehten Schiffes wird zur Behausung eines Literaten, dessen Vorfahren einst auf einfachen Zillen ("Ulmer Schachteln") donauabwärts eine neue Heimat suchten. Salzburg wird der neue Fluchtpunkt einer Perspektive auf die Welt. Die emotionale Hauptblickrichtung des Autors hält spürbar auf Südost, hinein in die Landschaft der familiären Herkünfte.

Solche und ähnliche Geschichten können entstehen, wenn man in den Essays liest oder sie im eigenen Leben zu lesen beginnen.

Ein Akteur spielt sich in den Vordergrund:

Für den scharfen Beobachter kulturgeschichtlicher Entwicklungen und Zusammenhänge waren die Themen "Zeit" und "Veränderung" immer schon von hoher Bedeutung. Im aktuellen Band erfolgen die Beobachtungen von Verwandlung und Umbrüchen verstärkt im Blick auf das eigene Leben und das der Familie. Das Phänomen "Zeit" wird zum Akteur.

"Die mir einst regelmäßig Briefe schrieben, sind tot, verstummt, von mir enttäuscht oder nach und nach aus der Wirklichkeit der persönlichen Wörter in die digitale Welt der vorgegebenen desertiert." (S. 18)

Eine spitze Feder und geschliffene Rhethorik lassen aufkeimender Sentimentalität keinen Raum, der die Texte begleitende "Geschmack der Erinnerungen" (S. 157) verleiht dem Buch aber doch eine ausgesprochen persönliche Note.

Immer wieder führt uns der Autor in seine Bücherwelten. Unzählige Bände wurden in dieser Wohnung gelesen und erwiesen sich doch zugleich als "Weg hinaus in die Welt" (S. 130). Oder - wie das Kochbuch der Großmutter - als Weg zurück in eine imaginierte Herkunft.


Literaturhaus Wien:
Verschiedene Zeiten, viele Länder

Karl-Markus Gauß hat mit der "Abenteuerlichen Reise" sein bisher bestes Buch geschrieben. Es ist elegant, kenntnisreich, spannend und offen, aber nie indiskret, obwohl es – auch – um familiäre und höchstpersönliche Einzelheiten beziehungsweise Lebensausschnitte geht. Damit korrespondiert das Motto, das er Xavier de Maistres "Reise um mein Zimmer" aus dem Jahr 1795 entnommen hat: "Man möge mir nicht vorwerfen, ich verlöre mich in Einzelheiten; Reisende machen das so."
De Maistres weit über zweihundert Jahre altes Buch dient Gauß gleichsam als Vorlage beziehungsweise Modell für seine eigene Reise, die ihn nicht nur durch ein Zimmer, sondern durch seine ganze Wohnung führt, das heißt durch verschiedene Zeiten und viele Länder. Auch Xavier de Maistre "ist weit herumgekommen, aber nirgendwo weiter als in seinem eigenen Zimmer." De Maistres Buch war eine Parodie auf die zeitgenössischen Reiseberichte, Gauß meint es ernst…
Für Freundinnen und Freunde der Numerik sei festgehalten, dass de Maistres Buch, auf das sich "sein literarischer Ruhm gründet", "nicht einmal hundert Seiten" umfasst, das gegenständliche aber nicht weniger als 220. Der französische Autor hat es jedoch auf 42 Kapitel gebracht, Gauß hingegen "nur" auf 38.
Was Karl-Markus Gauß über seinen Kollegen notiert hat, gilt uneingeschränkt auch für ihn: "Es sind jedenfalls gezählte, meist einfache Gegenstände, die er beschreibt – und es ist die ga 1c35 nze Welt, die er damit zu seinem Thema macht." Gauß rezensiert das Buch seines Vorgängers gleichsam, wenn er die Genese seines eigenen erklärt. Wohl der Vollständigkeit wegen verweist er auf Sophie von La Roche und ihr Buch "Mein Schreibetisch", das vier Jahre nach de Maistres Band in Leipzig erschienen ist.
Gauß' Wohnung "hat zwei Etagen und ist ein umgekipptes Schiff", sie "hat etwas Extrovertiertes und etwas Introvertiertes", jedenfalls kann man aus ihr in die "große Welt" gelangen. Sozusagen ohne Grenzen. Vor allem geistige. Gleich zu Beginn der "Abenteuerlichen Reise", die tatsächlich eine solche ist, stellt der Reiseschriftsteller klare Normen her: "Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus." Es geht ihm aber nicht nur um Dinge, die einem fehlen würden, sondern auch um Menschen, seien es nun der einzige Förderer, Bekannte, Freunde oder Personen, die einem begegnen.
Das erste Ding, das eine Geschichte bekommt, ist ein alter Brieföffner. Der Leser staunt, welche Assoziationen mit einem solchen Gegenstand literarisiert werden können. Der Ausflug führt weiter über Briefe und das Warten zunächst nach Südtirol, in die Ursprungsheimat des Schwiegervaters, inklusive Meran mit seiner "Promenadenordnung", die sogar "das Aufwirbeln von Staub durch nicht fußfreie Kleider der Damen" einfach untersagt hat. (Im Übrigen war der Schwiegervater "ein großer Reisender".) Hier wird die Geschichte des "übergeschnappten Geographielehrers" Ettore Tolomei dokumentiert, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Südtirol "alle nichtitalienischen Namen bis zum Alpenhauptkamm auszutilgen". In die Geschichte eingegangen ist Tolomei jedenfalls als Ortsnamenfälscher. Der Name, der dann folgt, ist ein glücklicherer: Klaus Stiller. Ein Dichter, der verstummt ist.
Zwischen den Stationen der Reise stellt Gauß fest, ohne sich zu beklagen: "Mein Leben lang habe ich es zu keinem Arbeitszimmer gebracht", wozu nebenbei bemerkt sei, dass die gegenständliche Wohnung, die auch für zehntausend Bücher als solche firmiert, wohl in ihrer Gesamtheit ein angenehmer Arbeitsplatz ist, und zwar ohne "Büro- oder Anwesenheitspflicht".
Der Schreibtisch wird in diesem Umfeld zum beschriebenen Hauptgegenstand, an dem der Autor über seine Vorfahren, namentlich Melchior Gauß, den Donauschwaben aus der Batschka aufschlussreich sinniert. Zum ersten Mal lese ich über die "Ulmer Schachtel" und erfahre, um welch höchstgefährliches Ding es sich handelt. Weiter geht es mit Onkel Hugo, der Großmutter und einem alten Hemd.
Danach folgt ein – anders will ich es nicht nennen! – sehr schönes Kapitel über den Maler Herbert Breiter und seine Ehefrau Burgi, die einzige Tochter des – wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus - umstrittenen Kärntner Künstlers Switbert Lobisser. Gauß ruft Breiter nach, dass er sein einziger Förderer gewesen sei, neben dem er keinen anderen gebraucht habe. "Der großzügigste Mensch, dem ich je begegnet bin, der Maler, dessen Großzügigkeit mir im Leben vieles erleichtert hat".
Die Zusammenstellung der Kapitel wirkt eigenartig, dennoch fügt sich eines in das andere. Ohne Bruchlinien. Auf Breiter, beispielsweise, folgt die Tassensammlung. Und dann die Duschhaubenkollektion. (Karl-Markus Gauß ist vielleicht der einzige Duschhaubensammler der Welt.) Dazwischen wird der Zeichner F. genannt und es kann nur Paul Flora gemeint sein. Weiter geht es, und zwar ohne Brüche, mit seinen Breiter-Bildern – 34, davon 27 kleine, hängen an den Wänden. Es entspricht der Logik einer klassischen Schriftstellerwohnung, dass den Bildern die Bibliothek folgt. Einleuchtend, dass seine Bücher "mit Randnotizen, Unterstreichungen, Rufzeichen" übersät oder versehen sind. Wie auch immer. Dabei und später auf der Reise fallen naturgemäß ein paar Dichternamen: L. H. für Ludwig Hartinger, Ali Podrimja ausgeschrieben, ebenso Joe Kemptner, Albert Ehrenstein, Charles Sealsfield und so weiter.
Zur "Abenteuerlichen Reise", einer Art Autobiografie in Fragmenten, aber mit positiver Konnotation, fallen mir zwei Begriffe ein: Spannung und Sprache.
Das Buch lädt zum Verschlingen ein, lesen sollte man es aber gemütlich, sozusagen adagio, um es in seiner Vielfalt tatsächlich zu erfassen.
Karl-Markus Gauß gebraucht eine einfallsreiche und ungemein genaue Sprache. In seiner Hand gerät das Deutsch zu etwas Geschmeidigem. Die Feinheit seiner Dichtkunst äußert sich auch im Gebrauch von Wörtern, die man nicht jeden Tag schreibt oder liest und die trotzdem nicht veraltet sind.
Und noch eines: Aus diesem Buch könnte man viele gescheite Zitate herausschälen. "Natürlich spricht aus der Literatur nicht der Geist einer Nation, sondern ein Individuum, das sich mit seinem Staat und seinen Landsleuten durch nichts als heftige Abneigung verbunden fühlen kann". Oder: "Der Kulturindustrie taugt alles zum Dekor." Und, und, und.
Karl-Markus Gauß selbst bezeichnet sein Buch als Reisebericht. Es ist um ein Vielfaches mehr, es ist eine Land-, Lebens- und Glücksbeschreibung in einem.

Janko Ferk
6. April 2019
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
15122 BI, Gau

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