Familienfest : Roman

Mitgutsch, Anna, 2003
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-630-87148-6
Verfasser Mitgutsch, Anna Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Verlag Luchterhand
Ort Frankfurt a. M.
Jahr 2003
Umfang 412 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Anna Mitgutsch
Annotation Bei den traditionellen Festen der Leondouris ist Edna Gastgeberin und Mittelpunkt. Sie hält die weitläufige Familie zusammen. In ihrem Haus am vornehmen Beacon Hill, an der zum Seder gedeckten Tafel, erzählt sie Geschichten aus dem Leben der Vorfahren, die als Familienbesitz in den Jüngeren fortleben sollen. Ednas Erinnerungen reichen Jahrhunderte zurück, so weit, daß Familiengeschichte und jüdische Geschichte zu verschmelzen scheinen. Mittelpunkt ihrer Geschichten sind ihr Vater Joseph, der einst von der Levante nach Amerika gelangte, der Onkel, der stellvertretend für einen Politiker im Gefängnis saß, die bittere Armut, in der die Familie jahrzehntelang im jüdischen Viertel von Boston lebte, und der märchenhafte Aufstieg, der einigen gelang. Sie erinnert sich an ihre erste große Liebe, die mit einem tragischen Unglück endete. Unter den Erwachsenen und Kindern am Tisch sitzt auch ihr Großneffe Marvin mit seiner zum Judentum konvertierten Frau und seinem Sohn, der seit einem Unfall behindert ist. Marvin liebt Frau und Kind und würde doch gern alles hinter sich lassen, um noch einmal von vorne anzufangen. In Adina, ihrer heranwachsenden Großnichte, entdeckt Edna eine »echte« Leondouri: Adina, die »Prinzessin«, ist schön und klug, sie hat den Abenteuergeist ihres Urgroßvaters.

Schauplatz dieses farbigen Romans ist Boston mit seinen sich wandelnden Einwanderervierteln, den eleganten Stadtteilen und den Ferienorten an der Altlantikküste.

Anna Mitgutschs neuer Roman ist ein bewegendes Epos von der Sehnsucht nach Glück, ein Buch voller faszinierender Gestalten und Schicksale, das den Leser unwiderstehlich in seinen Bann zieht.

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Martina Lainer;
Eine jüdische Familie in Amerika im Wandel des 20. Jahrhunderts. (DR)

Sie ist die Tochter von Einwanderern, und ihre Lebensdaten decken sich mit denen des 20. Jahrhunderts. Edna Schatz, eine geborene Leondouri mit mediterranen wie osteuropäischen Wurzeln, ist die Hauptfigur in diesem Roman, der eine jüdische Einwandererfamilie im Wandel der Zeit eines bewegten Jahrhunderts schildert. Aus der Sicht der betagten Edna wird dem Woher der Familie nachgegangen und nach dem Wohin gefragt. Ein letztes Mal wird bei Edna der Sederabend gefeiert und während des Festes reflektiert Edna über ihr Leben, sie resümiert über Geschehnisse und gelangt zu neuen Erkenntnissen. Sie erzählt aber auch, hält Episoden aus der Familientradition lebendig und wird zum Mythos der Familie. Wie ein Leitmotiv zieht sich das Bild der im jüdischen Jahreskreis verankerten Feste durch den Text, sie geben der Familie Struktur, sie deuten die Veränderungen im Familiengefüge an. Ob es der Niedergang einer Familie ist, der mit dem Begräbnis Ednas endet, lässt sich so eindeutig nicht sagen, es geht primär um das Sichtbarmachen von Veränderung. Das mittlere Kapitel zeigt Ednas Großneffen Marvin am Tag des Thanksgivingdays in seinem Haus, zu dem auch Edna geladen ist. Seine Biografie wird lebendig, sie repräsentiert das Leben eines Endvierzigers, der sich der jüdischen Tradition abgewandt hat.
Anna Mitgutsch hat eine komplexe Familiengeschichte komponiert, in der sie eine bemerkenswerte Frau in den Mittelpunkt stellt, der das Schicksal nicht nur Rosen streute, die aber gelernt hat, trotz Einschränkungen glücklich und vor allem authentisch zu sein. Der gesellschaftliche Kontext ist der Amerikas, sie leitet den Blick zurück zu den jüdischen Einwanderern und wie der Rassismus in den Städten Veränderung im gesamten Gefüge bringt. Inhaltlich vielschichtig und facettenreich ist dieser Roman, dicht in seiner Erzählweise und poetisch in seiner Sprache. Anna Mitgutsch ist wieder ein wunderbarer Roman gelungen, den zu lesen Vergnügen bereitet. Sehr zu empfehlen.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Primus-Heinz Kucher;
Grandioser Zerfall / Anna Mitgutschs Roman "Familienfest"

Bilder aus einem Familienalbum, so der rückseitige Klappentext, stellt der neue Roman der amerikaerfahrenen Autorin Anna Mitgutsch in Aussicht, Bilder "vor dem Hintergrund der zur Metropole wachsenden Hafenstadt Boston". In der Tat betritt Mitgutsch mit ihrem Roman ein erwartungsweckendes, aber auch vielbeackertes, Klischierungen wie Anfeindungen ausgesetztes Terrain. Den lauernden Blick der Kritik im Nacken, die mit Familienromanen mitunter ihre Schwierigkeiten hat, sofern diese abseits deutscher Jahrhundert-Katastrophen, österreichischer Hinterfotzigkeiten oder vertrackt-verkünstelter Nabelschau nach anderen Horizonten Ausschau halten, wagt sich die Autorin an ein großes Thema heran: die Nachzeichnung des Zerfalls einer über fünf Generationen vorangetriebenen Integration, auch partiellen Assimilation, einer jüdischen Familie sefardo-levantinischer Prägung in und an den amerikanischen Traum. Bereits die erste Seite rückt diese Perspektive in den Vordergrund: Edna, die unumstrittene Patriarchin, Tochter des schillernden Clan-Begründers und Einwanderers Joseph Leondouri, bereitet in einem Zimmer ihres Hauses heimlich den Bruch mit ihrem sozialen Umfeld vor, d. h. die Übersiedelung in ein Altersheim, während in einem anderen Zimmer noch einmal Pessach im Kreis der Familie gefeiert und die genealogische Ordnung illusionär beschworen werden soll. Vom Ansatz her gewiss auch als dankbares Motiv der Identifikation mit dem jüdischen Festkalender und quasi als subtiles Seitenstück zu austriakischen barockkatholischen Schreib-Liturgien fassbar, bedeutet das Pessachfest für Edna und für den Roman eigentlich viel mehr: die Möglichkeit, eine große Stärke auszuspielen: das wohltemperierte Eintauchen in das Erzählen und dessen komplexe Konturen, meist Überblendungen von Zeit und Erinnerung. Vermeintlich sichtbare, Gewissheit suggerierende Grenzen und memoriale Bezirke zerfließen in gekonnt ineinander geschichteten fragmentarischen flash backs, die das Weiterleben in den aus- wie unausgesprochenen Landschaften, aus denen Ednas Gedächtnis geformt ist, ermöglichen und fortbestehende Fremdheiten, subtile borderlines, unerfüllte Begehren und Träume, mit einem Wort: lebenslange Kränkungen durch moduliebare Formgebung in der erzählten Erinnerung erträglich erscheinen lassen.
Zwar ist der Text in drei Abschnitte klar gegliedert, die jeweils eine Gestalt aus drei verschiedenen Generationen dieser Familie ins Blickfeld stellen, doch der Edna-Strang überlagert das gesamte Geschehen, reißt nie völlig ab und bewegt sich konsequenterweise auf ihren Tod zu. Auf den vielen Seiten dazwischen entfaltet sich freilich ein schillerndes Panorama, in dem die Akzente auf innerfamiliäre Katastrophen zu liegen kommen und nur signalhaft die denkbaren großen Themen der Geschichte (Prohibitionsjahre, Krieg, Vietnam, Rassenkonflikte) aufblitzen. Besonders im narrativen Umgang mit dem familialen Kosmos, ein ununterbrochen ausfransender (dem Band ist daher eine hilfreiche Genealogie vorangestellt), zeigen sich die Stärken des Buches. Den allseits lauernden Versuchungen, sich mäandernd in Erinnerungen zu verlieren und auf lässig triviales Konversationsgerede abzurutschen, begegnet Mitgutsch mit einer präzisen narrativen Regie, der es gelingt, die Erinnerungsarbeit zu reflektieren, auf jeweils tiefer liegende Schichten aufprallen zu lassen und das banal Formelhafte in manchem Gespräch als figurenadäquat, situationsgerecht und damit wieder als semantisch plausibel zu markieren. Der mythenumrankte Clanbegründer, an dem sich einerseits eine faszinierende Familiengeschichte zurück in die kabbalistische Welt der Sefardim, ihre Vertreibung aus Kastilien und Fluc 2000 ht auf den Peloponnes andeuten lässt, entpuppt sich in seiner Alltäglichkeit als durchaus profaner Lebemensch, der die Existenz seiner Familie durch anrüchige Geschäfte im Hafenviertel, durch Beziehungen jenseits der Legalität - er gilt als kleiner "Pate" - sicher stellt. Womit auch eine der gar nicht seltenen Grenzüberschreitungen angesprochen wird, die der ebenso sichtbaren wie programmatisch einbekannten Verankerung des Romangeschehens in jüdischer Kultur und Lebenswelt - "schließlich seien auch Familiengeschichten eine Art Haggada" - gegenüberstehen. Amerika erscheint Edna einerseits als "goldene medinah" und schlägt andererseits, eine Generation später, durch die korrodierende Macht der Integration und Assimilation Stück für Stück aus der kulturell-religiösen Geborgenheit heraus. Das beginnt bei den Namen der Nachkommen, die aus Gründen der Konvenienz und Integration protestantische sind - quasi ein Opfer an Thanksgiving - und bei religiösen Anlässen gegen jüdische, gegen einen "Geheimcode", eingetauscht werden, und gipfelt in umstrittenen Mischehen, Ausgrenzungen und radikalen Abwendungen. Symptomatisch auch der Exodus aus dem einst jüdischen Viertel Dorchester in den 60er Jahren, das als Folge von Bauspekulation, Rassenkonflikten und sozialem Aufstieg zum schwarzen Slum verkommt. Unverkennbar spinnt diese Exodus-Erfahrung das Grundmuster der Diaspora weiter und taucht an Schnittstellen der Edna-Erzählung öfter auf.
Edna ist zweifellos eine starke Frauengestalt, fast ein Gegenentwurf zu den fragileren, in sich gebrochenen der vorangegangenen Bücher, zu Hildegard/ Dvorah oder zu Nadja, um nur zwei zu nennen. Sie trägt die schwere Last einer persönlichen Katastrophe und fühlt sich verpflichtet, die familiären Verstrickungen in scheinbarer Gelassenheit mitzubetreuen. Stück für Stück legt Edna in ihren Erinnerungen (wenige) unbeschwerte sowie eine Reihe trister, auch feiger Episoden frei, etwa das Scheitern ihrer ersten Ehe nach einem Autounfall, der ihr eine Behinderung, den unauslöschbaren Makel einer sorgsam verhüllten Beinprothese eingetragen hat und in eine nachfolgende Konvenienzehe, in "unerfüllte Leidenschaften" mündete. Wäre da nicht die Familie mit ihren zahllosen Lebenskatastrophen; erst in deren Archivierung und narrativen Verwaltung kann sie Halt finden, so auch im Gespräch über die vom Vater dekretierte Verleugnung der Schwester nach deren (kurzer) Ehe mit einem grobklotzigen irischen Hafenarbeiter, der im Suff zum wüsten Antisemiten auszuarten pflegte.
Während in Adina, der zur Frau heranwachsenden Großnichte, im Schlussteil eine geradezu unkomplizierte Lichtgestalt aufblitzt, gehört der Großneffe Marvin, Professor an einem College und Protagonist im zweiten Teil des Romans, zur Galerie der vom Leben Geschlagenen, zum Strandgut des amerikanischen Küstentraum(a)s. Angezogen vom "schlampigen Charme einer ewigen Boheme" verfängt er sich im Kleinbürgerkitsch des Aufsteigers und scheitert in seiner Beziehung mit Carol, einer selbstbewussten, zum Judentum konvertierten Pastorentochter, als der gemeinsame Sohn nach einem Autounfall zum lebenslänglichen Pflegefall wird. Früher attraktiv und überlegen, mit Ednas Sohn in eine Affäre verstrickt, sieht sie sich zurückgeworfen auf eine blasse Kameradin des Unglücks, die den alternden Filou nach seinen Fluchtfahrten, seinem nutz- und fruchtlosen, fast kindlich-trotzigen Aufbegehren um ein banales (weil sexistisches) Recht auf Glück, missmutig aufnimmt in die finale Stummheit eines leeren Hauses. Gefahren wird überhaupt viel im Roman, auf Ausfallsstraßen, der Küste oder Peripherien entlang, wobei die Faszination der einsamen Straßen spiegelbildlich der übertünchten Leere mancher Figuren zu korrespondieren scheint. Eine Leere freilich, die Mitgutsch stimmig bis ins Detail auszugestalten vermag. Auch das Nebensächlichste, Disparate hat Teil an dieser grandiosen Verfallsmaschinerie: die (klassische) Beschreibung von Dünenstränden ebenso wie eine Autofahrt nach Vermont, der Hinweis auf die größte Achterbahn Amerikas in Hampton Beach nicht minder als eine deprimierende Fresshalle im campusnahen Brockton, der Endstation resignierter Fast-Food-Junkies. Dort hätte man sich Marvin nach seinem kläglich abgestürzten erotischen Internetchat auch narrativ entsorgt vorstellen können. Könnte die eine oder andere Konstellation auch schärfere Akzente, Zuspitzung oder mehr Widerständigkeit, vertragen, z. B. jene der Verstrickungen in das semikriminelle Paten-Milieu oder das der merkwürdig prickelnden Distanz Adinas zu ihrer Mutter, so vermag dies nichts am grundlegenden Eindruck zu ändern: dieser Roman ist ein glanzvoller Beweis dafür, dass Mitgutsch zu erzählen versteht, indem sie vordergründig private Erinnerungen und die in ihnen verdeckte, mittönende größere Geschichte, aber auch den verborgenen, den verdrängten Schmerz ihres Stimmenensembles zu einer hochpoetischen und komplexen Komposition zu fügen weiß.

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Quelle: Stifterhaus (http://www.stifter-haus.at/);
Autor: Helmut Sturm;
Heimat finden in den Familiengeschichten
Die Genealogie am Vorsatzblatt des Romans nennt dreißig Menschen, denen Leserin und Leser auf den gut vierhundert Seiten begegnen wird. Viele der Personen kommen dabei nur in den Geschichten der zwanghaften Erzählerin Edna vor. Sie richtet das Pessach-Seder der Leondouri-Familie aus. Dabei wird die Haggadah gelesen, die die Dramaturgie dieses größten jüdischen Festes enthält und soviel wie "erzählen" bedeutet. Zu erzählen gilt es die Geschichte vom Auszug aus Ägypten unter Mose, aber auch den Exodus der Familie aus der Armut im osteuropäischen Stettl und aus den ärmlichen Verhältnissen Dorchesters, dem jüdischen Viertel Bostons. Seder heißt Vorschrift, weil bei diesem Essen, das die jüdischen Familien zusammenführt, alles bestimmten Regeln folgt. Anna Mitgutsch beachtet in ihrer Erzählanordnung diese Regeln, ohne dass sie bemerkbar werden. Exodus ist dort geboten, wo Leid, Unglück und zerstörte Glücksvorstellungen Menschen treffen. In der Leondouri-Verwandtschaft gibt es davon genug. Dieser Stoff ist aufgeteilt auf die drei Teile des Romans, in deren Zentren die alte Edna, ihr Großneffe Marvin und ihre Großnichte Alina stehen. Verbunden sind die Teile durch Edna, die nicht nur im Mittelpunkt des ersten Romanteils steht, sondern sie ist ebenso präsent bei dem von der Frau des Großneffen Marvin vorbereiteten Thanksgiving-Dinner wie zuletzt als Tote Zentrum der Familie beim Begräbnis.
Der Großteil der Romanhandlung spielt in Boston und im umliegenden Neuengland, dessen Vorstadtleben und Atmosphäre keine deutschschreibende Schriftstellerin besser einzufassen vermöchte. So gelingt Anna Mitgutsch auch die Schilderung der Ankunft einer jüdischen Familie in der amerikanischen Kultur uneingeschränkt. Sie macht dabei auf die Schwierigkeiten und Verwundungen aufmerksam, die bei einem derartigen Assimilationsprozess auftreten. Ein Prozess, der nicht nur jüdische Einwanderer der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zugemutet wurde. Das ist einer der Gründe, warum diese Familiensaga wirklich Bedeutung hat. Edna, die nach einem Autounfall während der Hochzeitsreise eine Prothese tragen und in der Folge einen Großteil ihrer Lebensträume aufgeben muss, stellt wie ihr Großneffe Marvin, der ein behindertes Kind hat, und dessen Beziehung zu seiner Frau im Scheitern begriffen ist, die Frage nach dem Traum vom Glück. Nach der amerikanischen Verfassung gibt es ja auch ein Recht auf Glück. Mitgutsch entzieht sich ganz dem verbreiteten amerikanischen Optimismus, der Negatives überhaupt erst nicht wahrnimmt und so eine unheimliche Leere entstehen lässt. Sie weist den Literaturprofessor Marvin, der aus seiner Ehe ausbrechen möchte, um doch noch sein Lebensglück zu erfahren, durch seinen Bruder zurecht: "Ich habe zwar, im Unterschied zu dir, schon in der Schule Literatur verabscheut, aber von vollkommener Erfüllung ist da auch nirgends die Rede. ... Vielleicht solltest du jetzt nicht in erster Linie das Scheitern deines phantasierten Glüc 2000 ks betrauern, sondern das Scheitern deiner Ehe zu verhindern suchen." So ist all das Leid in diesem Buch trotz aller schonungslosen Anerkennung nicht Ursache von Pessimismus und Nihilismus. Zurück bleibt eine starke Lebensbejahung. Quelle für diese Bejahung ist die (jüdische) Familie. Das offenbart sich noch einmal in der Erzählung über die noch junge Alina, die nach einer frühen Konfrontation mit Gewalt und Tod in psychische Schwierigkeiten gerät. Die todkranke Edna wird ihr aber Vorbild in der Bewältigung von Leid und als in die Familiengeschichte Eingeweihte findet sie, die aus einer religiösen Mischehe stammt, auch ihre (jüdische) Heimat in der Leondouri-Großfamilie. Mitgutschs "Familienfest" ist eine Familiensaga, die viel Lebenserfahrung und tiefe Weisheit enthält und obendrein gut zu lesen ist.

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Quelle: SCHRIFT/zeichen;
Autor: Waltraut Kovacic;
Anna Mitgutsch, die teils in Österreich, teils in den USA lebt, stellt sich mit diesem Werk in die nordamerikanische Tradition der Familienromane.
Die drei, vom Umfang her ungleichen Teile des Romans, sind mit Edna, Marvin und Adina überschrieben. Der Stammbaum auf der ersten Seite weist diese Personen als Nachfahren von Joseph Leondouri aus, dessen Vater von Russland an die Ostküste der USA ausgewandert war, um dort sein Glück zu versuchen. Und die Frage, die sich durch den Roman - und durch die Generationen zieht, ist die nach dem Glück: Was macht das Glück aus? Wie weit hat man es selbst in der Hand, glücklich zu sein?
Edna hat das letzte Seder Mal (das in der jüdischen Tradition nach einer vorgeschriebenen Ordnung, der Hagada, zelebrierte Festmahl des Pessachfestes) in ihrem Haus vorbereitet, sie will in eine Wohnung am Meer umziehen. Aber es wird kein Seder Mal sein wie früher: "Der Seder war ein Drama, ein Schauspiel, in dem die symbolischen Speisen und Handlungen die Requisiten darstellten, die Hagada das Skript und die Familienmitglieder die Schauspieler. Doch wie konnte man sich an einem Schauspiel erfreuen, bei dem die Hauptrollen unbesetzt blieben und das Publikum fehlte?" (S.20). Edna setzt sich jedoch darüber hinweg, dass die Familie zu zerfallen droht und die (jüdischen) Traditionen verloren gehen. Seder ist das Fest des Erinnerns. Und so nützt Edna das Fest, nicht nur, um, wie es vorgeschrieben ist, an die Geschichte der Juden zu erinnern, sondern um die Familiengeschichte der Leondouris zu erzählen. Die strenge Liturgie des Anlasses ist gleichzeitig die Gliederung der Erzählung.
Es werden in Ednas Erzählungen nicht nur die höchst unterschiedlichen, interessanten Charaktere der großen Familie lebendig, sondern zugleich die Geschichte jüdischen Lebens in Boston im gesamten 20. Jahrhundert.
Kontrapunktisch dazu das Kapitel "Marvin", das ein Thanksgiving Dinner zum Hintergrund hat, ein amerikanisches Familienessen. Auch dieses hat eine spezielle Speisefolge, jedoch keine "Liturgie". Marvin, Ednas Großneffe, ist mit Carol verheiratet, einer ehemaligen Pastoren-Tochter, die bei der Hochzeit zum jüdischen Glauben übergetreten war, sie feiern christliche wie jüdische Feste. Während Edna ihr persönliches Glück immer hintangestellt hat, und tatkräftig immer mit beiden Beinen auf der Erde gestanden ist, kann sich Marvin mit der Realität nicht abfinden und flüchtet in eine Traumwelt.
Im Kapitel "Adina" treffen sich die Familienmitglieder, die sich zum Teil schon sehr lange nicht mehr gesehen und wenig gemeinsam haben, bei Ednas Begräbnis. Die Familienmitglieder, die sich zum Teil schon lange nicht gesehen haben, sind bemüht, die jüdischen Regeln für ein Begräbnis einzuhalten, ohne wirklich Bezug dazu zu haben. Adina, eine Großnichte Ednas, hatte in deren letzten Lebenszeit einen sehr engen und vertrauten Kontakt aufgebaut. Sie wurde für Edna zur Hoffnungsträgerin, dass doch etwas vom reichen Leben der Familie weiterleben wird - in einer anderen Form, in einem anderen Jahrhundert, aber doch verwurzelt in der Tradition.
Es ist Mitgutsch gelungen, trotz der Länge des Romans, nicht in Nebensächlichkeiten abzugleiten. Die Personen sind so plastisch und lebendig, dass man ohne Unterbrechung bis zum Schluss weiter lesen möchte.

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Quelle: Theologisch-Praktische Quartalschrift (http://www.ktu-linz.ac.at/ThPQ/);
Autor: Silvia Habringer-Hagleitner;
"Wenn man alt genug ist, hatte Edna einmal gesagt, kommt einem alles wie ein Wunder vor, vor allem, daß man noch am Leben ist." (406)
Edna, die Hauptfigur im neuen Roman der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch, ist eine in Boston lebende Jüdin am Ende ihrer Lebenstage. Bevor sie in ihre letzte Wohnung direkt am Meer zieht, will sie mit ihrer Familie, den Leondouris, das Seder-Mahl feiern, denn solange "sie im Kreis ihrer Gäste saß und ihre Geschichten von früher erzählte, würde es ihr gelingen, nicht daran zu denken daß die Familie vor ihren Augen unablässig zerfiel und daß die Jüngeren aufgehört hatten, sich als verwandt und über alle Differenzen hinweg einander zugehörig zu betrachten." (16). Während des Seder-Mahls erinnert und erzählt Edna in Parallele zur Hagada die über 100jährige Geschichte ihrer Familie, deren Wurzeln in Osteuropa liegen und die in Boston in das Spannungsfeld zwischen Assimilation an die amerikanische Lebensweise und Bewahrung jüdischer Tradition gerät. Vor den LeserInnen entsteht ein sozialgeschichtlicher Kosmos jüdisch-amerikanischen Lebens, wie er hierzulande sonst nur in Romanen von amerikanischen Autoren wie Philip Roth zu finden ist. Anhand der aktuellen Schicksale der Familienmitglieder wird die Brüchigkeit menschlichen Seins ebenso deutlich wie der Wunsch nach einem besseren Leben, die Sehnsucht nach Heilwerdung.
Besonders deutlich wird diese drängende Sehnsucht an Marvin, Ednas Großneffen, dem Mitgutsch den zweiten Teil ihres dreiteiligen Buches widmet. Anlässlich von Thanksgiving ist Marvin auf dem Weg zu Edna, um sie zu diesem klassisch amerikanischen Familienfest zu sich nach Hause abzuholen. Dabei wird seine Geschichte mit seiner aus protestantischem Hause stammenden Frau Carol und ihrem gemeinsamen Sohn Jonathan erzählt, der seit einem Unfall als Kind geistig behindert ist. Marvin flüchtet per Internet in eine Welt virtueller Liebe und hofft, damit einen ersten Schritt hinaus aus seinem für ihn unerträglichen Leben machen zu können.
Im dritten Teil dieses großen Romans stellt die Autorin anlässlich des Begräbnisses von Edna die Gedanken der jungen Adina in den Mittelpunkt. Adina ist die Enkelin von Ednas jüngster Schwester Bertha und erschien Edna zeitlebens trotz ihrer nicht-jüdischen Mutter als eine echte Leondouri, weshalb sie ihr die Familiengeschichte in besonderer Weise ans Herz legen wollte. Adina, eine moderne junge Amerikanerin, hat wenig Interesse, sich in die Details der Familiengeschichte zu vertiefen, hört ihrer Großtante aber umso begieriger zu, wenn diese aus ihrer persönlichen Vergangenheit erzählt und Adina in ihre gut gehüteten Geheimnisse einweiht. In Ednas letztem Sommer entwickelt sich zwischen den beiden Frauen ein inniges Naheverhältnis, bei dem Adina von Edna lernt, "daß die Welt größer war als der Kontinent, auf dem sie lebten, und daß auch auf der anderen Seite des Erdballs Geheimnisse und Abenteuer lagen, auf die sie nicht verzichten sollte" (332), dass das Leben aber auch unerwartete Wendungen nehmen konnte, die unabsehbar waren.
Wenn es Edna auch nur bedingt gelingt, Adina für die Tradition des Judentums und ihrer Großfamilie zu interessieren, so wird der jungen Frau schon beim Begräbnis ihrer Großtante deren Vermächtnis deutlich, das sie mit einer unerwarteten Heiterkeit erfüllt: "Als wäre sie beim Schwimmen nach langer Zeit aus dem Wasser emporgetaucht und könne nun gar nicht genug davon bekommen, ihre Lungen mit Atemluft zu füllen, verstand sie mit dem Gefühl, ja mit dem ganzen Körper, was Edna mit dem Wunder, am Leben zu sein, gemeint hatte." (407) Sie wollte über den Atlantik reisen an die Orte, die eine Leondouri aus ihr machen würden, sie wollte eine weltoffene Frau werd a08 en wie Edna, der die Atlantikküste stets Ausgangspunkt gewesen war, ein Anfang mit unvorstellbaren Möglichkeiten.
"Familienfest" mit seinen drei Buchteilen "Edna", "Marvin" und "Adina" erinnert mit seinen hellen und dunklen Geschichten einer Familie und ihrer Generationen an die Bücher des Ersten Testaments. Das Meer - einst dem israelitischen Volk ein Ort der Befreiung - wird für die Figuren von Mitgutsch zum zentralen wiederkehrenden Symbol des Trostes und Neubeginns. Es ist für die Leondouris ein Ort der Einsicht und Hoffnung, dass auch jenseits des Horizontes Leben möglich ist.
Der neue Roman von Anna Mitgutsch ist eine Fundgrube von Lebensgeschichten und voll von einfühlsamen Einblicken in die Innenwelten von Menschen. Er ist ein Zeugnis der Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion in ihrer zeitgenössischen, amerikanischen Erscheinungsform, ein Zeugnis der Sehnsucht, es möge doch die Erinnerung an die Verstorbenen wachgehalten werden, und ein Zeugnis davon, dass sich der Geist des Lebendigen, des Lebensmutes, der Weltoffenheit weitergeben lässt an die nächste Generation.
Bemerkung Katalogisat abgeglichen mit: Rezensionen online open (inkl. Stadtbib. Salzburg)
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