Schnittbögen : Roman

Flöss, Helene, 2000
Bücherei Zams
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Reservierungen 0Reservieren
Medienart Buch
ISBN 978-3-85218-334-3
Verfasser Flöss, Helene Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Südtirol, 1930er-Jahre, 1940er-Jahre
Verlag Haymon
Ort Innsbruck
Jahr 2000
Umfang 204 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Helene Flöss
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Christiana Ulz;
Am Schicksal zweier Liebespaare werden Politik, Krieg, Bräuche und Alltag im Südtirol der 1930er- und 1940er-Jahre zusammengeknotet. (DR)

Schnittbögen und Briefe sind das einzige, was den Südtirolerinnen Olga und Elsa von ihrem langen Leben geblieben ist; Briefe zwischen 1939 und 1943 aus Berlin und Russland, die von Hunger, Kälte, Verzweiflung und Liebe berichten und vom Heldentod, Schnittbögen, die zugleich Tagebuchaufzeichnungen sind. Sie begleiten die begabte Schneiderin Elsa auf ihrer Karriere, durch Lungenkrankheiten, Kerker und Straflager und lebenslang in ihrer Liebe zu Ulrich, der für sie den Kapuzinerorden verlassen hat, vor dem Kriegsdienst desertiert und vor seinen Schuldgefühlen in ein Eremitendasein geflohen ist. Immer wieder schneiden sich die Linien der "großen Politik" mit den Hoffnungen und Enttäuschungen, den Träumen und dem Leid konkreter Menschenschicksale. In einem sich erst im Laufe der Handlung auflösenden Wirrwarr zusammen- und auseinanderlaufender Erzählstränge wird die "gute alte Zeit" demontiert. Die vermeintliche Eindeutigkeit pathetischer Gefühle löst sich in alltäglichen Beschwerlichkeiten auf und erscheint wie Wetterleuchten über den Beggipfeln der Erinnerung. - Ein anrührendes, ausführlich recherchiertes, facettenreiches Beispiel lebend gewordener Geschichte, das eine Bereicherung für jede - öffentliche und private - Bibliothek darstellt.

----
Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Günther Stocker;
Die großen und die kleinen Dramen / Helene Flöss' gelungener Roman "Schnittbögen"

Im Jahr 1939 schlossen Hitler und Mussolini einen Vertrag ab, der die seit 1918 akute Südtirolfrage auf radikale Weise lösen wollte. Die deutschsprachige Bevölkerung sollte auf ihr Heimatland verzichten, die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und ins Reich oder in noch zu erobernde Gebiete umsiedeln. Wer sich fürs Bleiben entschied, behielt die italienische Staatsbürgerschaft, verlor aber jegliche Minderheitenrechte. Unglaubliche 90 Prozent stimmten für das Hitler-Reich. Der groß angelegten Umsiedlung kam dann aber der Zweite Weltkrieg dazwischen. Cirka 250.000 Südtirolerinnen und Südtiroler wanderten wirklich aus, etwa 70.000 davon kehrten nach 1945 wieder zurück.
Helene Flöss beschäftigt sich in ihrem neuen Roman mit dieser unruhigen Zeit auf überzeugende Weise. Sie legt mehrere subjektive Schnitte durch die Epoche von 1941 bis 1948, Schnitte, welche die individuellen Dramen im großen geschichtlichen Drama freilegen. Da ist der aus einer armen Bergbauernfamilie stammende Ulrich, der ohne recht zu wissen, wie ihm geschieht in die Klosterschule kommt und Kapuzinermönch wird. Als er im Juni 1944 zur Wehrmacht einberufen wird, desertiert er und verbringt die letzten Kriegsmonate in Verstecken. Da ist der Bäckergeselle Mati, dessen Familie für die Auswanderung optiert hat. Mati wird unverzüglich nach Berlin geholt und dann an die Ostfront abkommandiert. In Briefen an seine Jugendliebe Olga, die Tochter des Bäckermeisters, berichtet er von dem ihn verzehrenden Heimweh ebenso wie von den Gräueln des Rußlandfeldzugs. Olgas Vater hingegen hat sich für Italien entschieden, da er ökonomisch einiges zu verlieren hatte. Dafür werden seine Frau und seine Kinder von den Deutschland-Optanten nun als »Walsche« beschimpft. »Dableiber« sind auch die junge Schneiderin Elsa und ihre Familie, die einen Gasthof betreiben. »Buona notte, walscher Totte!« rufen die Kinder, wenn Elsas Bruder über den Domplatz geht.
Die Schicksale dieser vier jungen Menschen bilden den roten Faden des Buches, erzählt wird darin aber auch von den kleinen Feindseligkeiten zwischen den Deutschland-Optanten und den »Dableibern« ebenso wie von der großen Fremdheit zwischen der deutschsprachigen Bevölkerung und den aus Sizilien oder Kalabrien zugesiedelten Italienern. Der Roman zeigt, was die politischen Strategien der großen Diktatoren den Menschen in Südtirol angetan haben, und wie hilflos viele darauf reagiert haben. »Vor der Wahl mein Gott, was ist das für eine Wahl, wenn einer nicht weiß, welches das kleinere Übel ist vor der Wahl zeigt man sich im schwarzen Hemd und streckt vor den walschen Beamten die Rechte mit dem eisernen Ring aus. Nach der Wahl hält man Walsche und Deutsche leichter auseinander. Viele Walsche wissen aber nicht einmal, wie sie zu solchen geworden sind.«
Mit einfachen, präzisen Sätzen beschreibt Flöss die enge bäuerliche Lebenswelt in den Gebirgstälern, eine Welt voller festgefügter Regeln und katholischer Rituale. Sie beschreibt die weit verbreitete Armut, die harte Arbeit und vor allem, wie die offizielle Machtpolitik in den Alltag von Menschen dringt, die mit Politik nichts am Hut haben, die eigentlich gar nichts anderes wollen, als ihr einfaches Leben weiter führen und hin und wieder die alten Feste feiern. Aber in Zeiten von Faschismus und Krieg kann sich niemand raushalten, sind letztlich alle betroffen, auch wer glaubt, nichts damit zu tun zu haben. Selbst in den hintersten Bergtälern finden sich Schergen der Diktatur, bis dorthin kommen aber auch die Flüchtlinge, die ein Versteck brauchen und auf etwas Solidarität hoffen.
Was dieses Buch so besonders macht, ist aber nicht nur der klare und doch subjektive Blick auf die Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus in Südtirol, sondern auch die Art und Weise, wie die Erinnerung daran konstruiert wird. Der Roman folgt seinen vier Protagonisten und ihren sich kreuzenden Lebenswegen aus verschiedenen Perspektiven und mit historischer Distanz. Er beginnt damit, daß Elsa, inzwischen Mitte siebzig, ihre Wohnung aufräumt, da sie gemeinsam mit Olga in ein Altersheim übersiedelt. Dabei stößt sie auf zusammengerollte Schnittbögen aus ihrer Schneiderei, auf denen sie die Kriegsjahre hindurch tagebuchartige Aufzeichnungen geführt hat. Diese Schnittbögen dienen nun als Wegmarken des Gedächtnisses und tragen gemeinsam mit den Feldpostbriefen von Mati (zusammengestellt aus authentischen Briefen von Verwandten der Autorin), den Ich-Erzählungen von Olga und der Geschichte von Ulrich zur vielstimmigen Erinnerungswelt des Romans bei, »als Krücke beim Zurückschauen«. Durch die verschiedenen Blickwinkel, aus denen die Vergangenheit zusammengesetzt wird, und durch den ständigen Wechsel der Erzählperspektive erhält der Text als Gewebe der kollektiven Erinnerung große Authentizität. Es läßt sich förmlich von Zeile zu Zeile spüren, daß die Autorin bei ihren Recherchen für das Buch sehr aufmerksam mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen hat.
Flöss entwickelt ihr Kriegstagebuch aus dem Hinterland darüber hinaus mit einem ausgezeichneten Sinn für erzählerische Ökonomie. Sie hat viel zu erzählen, und kommt doch mit wenigen, aber dafür um so eindringlicheren Sätzen aus. Eine Vielzahl kleiner Episoden läßt ein farbiges Bild dieser Jahre entstehen, das durch ladinische und italienische Einsprengsel in den Text auch die Mehrsprachigkeit dieser Region widerspiegelt. Ihr Stil ist dabei knapp und oft lakonisch. Die Erinnerungen der Protagonistinnen künden nur selten von den großen Kriegsereignissen und trotzdem sind diese ständig präsent. »Vielleicht erinnert man sich an viel lächerliches Zeug. Aber ein Allerseelentag ohne Lichter auf dem Friedhof ist grad, als müssten die Toten noch einmal sterben.« Diese Konzentration auf persönliche Erinnerungen und die sparsame und nüchterne Erzählweise sind die großen Qualitäten des Romans, gerade weil Flöss nur traurige Geschichten zu erzäh 6d4 len hat und weil diese eine ganz andere Gedächtniskultur vorschlagen, als die von Pathos und Heldengedenken geprägte offizielle Südtiroler Geschichte.
Bemerkung Katalogisat abgeglichen mit: Rezensionen online open (inkl. Stadtbib. Salzburg)
Exemplare
Ex.nr. Standort
3620 DR.E, Flö

Leserbewertungen

Es liegen noch keine Bewertungen vor. Seien Sie der Erste, der eine Bewertung abgibt.
Eine Bewertung zu diesem Titel abgeben