Der Mann im roten Rock : Roman

Barnes, Julian, 2021
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-462-05476-7
Verfasser Barnes, Julian Wikipedia
Beteiligte Personen Krueger, Gertraude [Übers.] Wikipedia
Systematik DR.B - Biographische Romane, romanhafte Biographien
Schlagworte England, Paris, Frankreich, Biografie, Vom Ende einer Geschichte, Belle Epoque, Pozzi, Samuel, Blut und Boden, Oscar Wilde, Henry Ja 700 mes, Marcel Proust, Gynäkologe, Freigeist, Kunst sehen, Sarah Bernhardt, Jugendstil, Sir Arthur Conan Doyle, Samuel Pozzi, John Sargent Singer
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Ort Köln
Jahr 2021
Umfang 304 Seiten
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Auflage
Sprache deutsch
Verfasserangabe Julian Barnes. Gertraude Krueger
Illustrationsang Illustrationen
Annotation Angaben aus der Verlagsmeldung



Der Mann im roten Rock Barnes, Der Mann im roten Rock / von Julian Barnes


Julian Barnes nimmt uns mit auf eine Reise durch das Paris der Belle Époque.

Julian Barnes lässt uns teilhaben am Leben von Dr. Samuel Pozzi (18461918), dem damals bekannten Arzt, Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie und Freigeist, ein intellektueller Wissenschaftler, der seiner Zeit weit voraus war: So führte er Hygienevorschriften vor Operationen in Frankreich ein und übersetzte Darwin ins Französische. Julian Barnes zeichnet das Bild einer ganzen Epoche am Beispiel dieses charismatischen Mannes. Man kann Julian Barnes nur bewundern: Kenntnisreich, elegant und akribisch recherchiert, beschreibt er das privat turbulente Leben Dr. Pozzis und erzählt Kulturgeschichten über den Fin de Siècle und seine Protagonistinnen und Protagonisten: Maler, Politiker, Künstler, Schauspieler, Schriftsteller. Dr. Pozzi reiste, um Erkenntnisse zu gewinnen, und stand für einen engen Austausch zwischen England und dem Kontinent. Julian Barnes beleuchtet diese fruchtbaren Beziehungen und schreibt zugleich ein spannendes Plädoyer, an der Idee Europas festzuhalten.


OE1 Lesen: 15. Februar 2021
Wolfgang Popp

"DER MANN IM ROTEN ROCK"

Der neue Julian Barnes: Mit der Bohème gegen den Brexit
Julian Barnes gilt als einer der vehementesten Brexit-Gegner seines Landes. Sein neues Buch hat er geschrieben, während die Austrittsverhandlungen liefen. "Der Mann im roten Rock", so der Titel, kehrt zwar in die Zeit der Belle Époque zurück, die hat aber so einiges mit dem gegenwärtigen Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu Europa zu tun.

"Ein extremer Nationalismus, Antisemitismus und eine große Fremdenfeindlichkeit hätten Ende des 19. Jahrhunderts geherrscht, die damalige Zeit sei also ähnlich schrecklich gewesen wie die heutige", sagte Julian Barnes im "Guardian"-Interview. Durch einen Zufall stieß Barnes aber auf einen Mann, der sich den nationalistischen Strömungen entgegenstellte.

Pozzi, ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit ...

... schreibt Julian Barnes über seinen Samuel Pozzi in "Der Mann im roten Rock".

Gedankenreise in die Belle Époque
Anders als in seinem vorherigen Buch "Der Lärm der Zeit" über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, legt Julian Barnes dieses Mal jedoch keinen Roman vor, sondern einen lustvoll durch die damalige Zeit flanierenden Essay.

"Da gibt es längere Passagen mit Zitaten und dann wieder Barnes Überlegungen zu dem Thema und dieser dauernde Stilwechsel sorgt für viel Abwechslung", sagt Gertraude Krüger, die seit mehr als dreißig Jahren Barnes Bücher ins Deutsche übersetzt.

Doktor Herzensbrecher
Wer aber war nun dieser Samuel Pozzi? Als Franzose italienischer Abstammung machte er in Paris Karriere als Arzt und behandelte die Berühmtheiten seiner Zeit. Unter ihnen befand sich auch die ‚göttliche Sarah‘, die Schauspielerin Sarah Bernhardt, mit der er eine Affäre begann. Eine von zahlreichen Affären, die Pozzi im Laufe seines Lebens unterhielt. Was seinem Ruf als Arzt und Wissenschaftler keinen Abbruch tat. So war sein Lehrbuch der Gynäkologie weltweit als Grundlagenwerk anerkannt. Dort, in der Einleitung, fand Julian Barnes einen Satz, der ihn für Pozzi einnahm:

Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz.

Mit dieser Einstellung war Samuel Pozzi der perfekte Wegbegleiter für Julian Barnes bei seinem Ausflug in die Belle Époque.

Was können wir wissen?
Das Bild der Epoche zeichnet Barnes kaleidoskopartig, wechselt zwischen Politischem und Privatem, zwischen Kunst und Skandalen und tastet sich so, detailgenau und lebensnah, zu einem Verständnis der damaligen Gedankenwelt vor.

"Was können wir wissen?, ist eine zentrale Frage für Barnes, und wo es keine Quellen gibt, da sagt er auch ganz offen, und den Satz findet man mehrmals im Buch: Wir wissen es nicht", so die Übersetzerin Gertraude Krüger.

Duell Époque
Julian Barnes beschreibt das politische Geschehen, wie etwa der Dreyfus-Prozess Frankreich spaltete, oder wie England und Frankreich am Rand eines Krieges standen. Genauso dringt er in die Mentalität der Gesellschaft ein, und zeigt anhand der ausufernden Zahl an Duellen deren gewalttätige und neurotische Seite. Der spätere Kriegsminister George Clemenceau focht in seinem Leben nicht weniger als zweiundzwanzig Duelle aus, erfährt man da.

Das Leben der Bohème
Ganz zentral ist für Barnes auch das kulturelle Leben der damaligen Zeit. Da treten Oscar Wilde oder Marcel Proust auf und man liest von der ungeheuren Verkleidungslust der Boheme, die sich vor der Kamera in orientalischen, japanischen oder Renaissance-Gewändern inszenierte. Die Boheme war es auch, die für einen regen Austausch zwischen Paris und London sorgte, während die konservativen Kräfte die Vorbehalte schürten.

"Ich habe sehr stark das Gefühl, dass die Geschehnisse rund um den Brexit der Auslöser für Barnes‘ Beschäftigung mit der Belle Époque waren. Denn er betont immer wieder, wie wichtig die kulturellen Beziehungen damals waren, zwischen Frankreich und England, aber auch zwischen England und dem Rest von Europa", sagt die Übersetzerin Gertraude Krüger.

Der flanierende Blick
Mit Samuel Pozzi hat Julian Barnes einen genialen Dreh- und Angelpunkt gefunden, denn Pozzi ging mit dem französischen Präsidenten auf die Jagd und fuhr mit seinen Dandy-Freunden auf Kunst-Shopping-Tour nach London. So kann Barnes mit Pozzi seinen Blick in alle Richtungen schweifen lassen, und das macht "Der Mann im Roten Rock" zu einem unglaublich schillernden Zeitporträt.


Quelle: Literaturreich, 25. Juli 2021, Petra Reich
Es beginnt mit einem Gemälde von John Singer Sargent. Das 1881 entstandene, in opulenten Rottönen gehaltene Ölgemälde zeigt lebensgroß einen in einen edlen Morgenrock gekleideten, in exquisiter Pose verharrenden Mann. Es ist Samuel Jean Pozzi (1846-1918), bekannter Pariser Arzt, Chirurg und Hygieniker, seit 1909 Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich. Julian Barnes nimmt ihn, Der Mann im roten Rock, als Türöffner für seine Reise in eine Epoche, die gemeinhin auch die Schöne genannt wird. Die „Zeit des Friedens zwischen der katastrophalen französischen Niederlage von 1870-71 und dem katastrophalen französischen Sieg 1914-18“ gilt als Blütezeit der Kunst, als Zeit der Ästhetisierung des Daseins und des Glamours „mit mehr als einem Hauch von Dekadenz“ – für die, die es sich leisten konnten.

“Die Belle Époque war eine Zeit unermesslichen Wohlstands für die Wohlhabenden, der gesellschaftlichen Macht für die Aristokratie, des hemmungslosen und ausgefeilten Snobismus, des ungezügelten Strebens nach Kolonialbesitz, des künstlerischen Mäzenatentums und des Duells, dessen Brutalität oft eher ein Gradmesser der persönlichen Erregung als der verletzten Ehre war. Man kann dem Ersten Weltkrieg nicht viel Gutes abgewinnen, aber wenigstens hat er davon viel hinweggefegt.“

SAMUEL POZZI
Einer davon war Samuel Pozzi, Sohn eines protestantischen Pfarrers aus Bergerac mit italienischen Wurzeln. Da der Vater nach dem Tod der Mutter ein zweites Mal heiratete, und zwar eine Engländerin, wuchs Pozzi zweisprachig auf. Etwas, das seine Neigung zu England und der englischsprachigen Welt sicher unterstützte. Im Jahr 1846 begann er das Studium der Medizin in Paris und fand im Chirurg Paul Broca und im Literat Leconte de Lisle einflussreiche Förderer. Besonders im Bereich de 2000 r aseptischen Operation und der Gynäkologie tat er sich hervor und wirkte schließlich 35 Jahre am Pariser öffentlichen Krankenhaus Lourcine-Pascal (später Hôpital Broca). Durch Heirat mit der sehr vermögenden Thérèse Loth-Cazalis konnte er außerdem eine Privatpraxis an der Place Vendôme eröffnen und wurde bald eine Art Modearzt. Er kannte „tout Paris“ und war, so eine Art running gag bei Julian Barnes, „überall“. Eine Zeitgenossin nannte ihn „ekelhaft gutaussehend“ und er galt als „Homme à femmes“, handfester ausgedrückt, ein Schürzenjäger.

Schon seit jungen Jahren war er ein enger Freund (und zeitweise Liebhaber) der skandalumwitterten Schauspielerin Sarah Bernhardt, er war Arzt und Unterstützer von Alfred Dreyfus, Freund der Familie Proust (deren Sohn Robert 1904 bis 1914 als sein Assistent arbeitete), zählte etliche Künstler und Schriftsteller zu seinem engeren Bekanntenkreis. Darunter auch Prinz Edmond de Polignac und Robert de Montesquiou-Fezensac, beides Vertreter jener Lebenseinstellung, die für Julian Barnes so typisch ist für die Belle Époque: den Dandyismus. Der Dandy zeichnet sich durch perfektes Stilempfinden, besonders in Bezug auf seine äußere Erscheinung, durch einen Hang zur Selbstinszenierung, durch Geistreichtum und Großzügigkeit aus. Bürgerliche Zwänge sind ihm ein Gräuel. Politik interessiert ihn nicht.

„Der Dandy ist in Ästet, für den Denken weniger Wert hat als Sehen“

Für Julian Barnes ist Samuel Pozzi „beinahe ein Dandy.“ Sein Stilempfinden, sein Gesellschaftsleben, seine zahllosen Affären, besonders die jahrelang andauernde, offene Beziehung zur ebenfalls verheirateten Emma Fischoff, zeichnen ihn als solchen aus. Gleichzeitig gilt er ihm mit seiner Weltgewandtheit, seiner Wissbegierde und breiten Bildung, seinem rationalen, fortschrittlichen Denken (er war Atheist und übersetzte Charles Darwin ins Französische, unternahm zahlreiche Reisen zu Medizinkongressen weltweit) und seiner freundlichen, großzügigen Art als positive Ausprägung dieser Lebenseinstellung.
ROBERT DE MONTESQUIOU-FEZENSAC
Anders Robert de Montesquiou-Fezensac, der wie Edmond de Polignac offen homosexuell lebt (auch wenn letzterer zwecks Aufbesserung der Kasse eine Ehe mit der steinreichen amerikanischen – und lesbischen – Erbin Winnaretta Singer einging), und sich zu so etwas wie einer zweiten Hauptfigur in Der Mann im roten Rock und einer Art Gegenentwurf zu Pozzi entwickelt. Ihm sind soziales und politisches Engagement, wie es Pozzi durchaus vertritt, fremd. Er ist eitel, oberflächlich, zynisch und extrem egozentrisch. Als Baron de Charlus ist er nicht nur in Marcel Prousts Recherche du temps perdu verewigt, sondern auch der Protagonist von Joris Karl Huysmans gerne als „Bibel der Dekadenz“ bezeichnetem Roman À Rebours (dt. Gegen den Strich), der auch Oscar Wildes Dorian Gray beeinflusste und quasi mit Wilde zusammen bei dessen „Unzuchts-Prozess“ vor Gericht stand. Hier ist der „Hauch Dekadenz“ endgültig zu einem Sturm geworden.

Pozzi hingegen gilt für Julian Barnes als „ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit.“ Einer Zeit, die schön zu nennen „erst 1940-41, nach einer weiteren französischen Niederlage, in die Sprache Einzug“ hielt.

„Damals jedoch war die Schöne Epoche – auch dem Gefühl nach – eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen, Skandalen.“

Politische Korruptionsskandale, zahlreiche Attentate (u.a. 1894 auf den französischen Staatspräsidenten Carnot, 1898 auf Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, 1914 auf den sozialistischen Politiker Jean Jaurès und nicht zuletzt auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, der Starschuss zum Ersten Weltkrieg), blühender Antisemitismus (Dreyfus-Affäre) und eine Unzahl von Ehrenhändel in Form von Duellen machen die Schattenseiten der Belle Epoque aus. Außerdem zeichnet sie sich durch einen erschreckend rüden Journalismus aus. Klatsch, Tratsch und Skandale, wie sie beispielsweise die Gebrüder Goncourt in ihrem „Journal“ zusammentrugen, und üble Nachrede, die zu so manchem nicht nur gesellschaftlichen Ruin beitrugen, wurden wie eine Art Sport betrieben. Besonders Léon Daudet, Edouard Drumont und Jean Lorrain betätigten sich hier mit Bravour. Auch letzterer wird zu einer zentralen Figur in Der Mann im roten Rock.

EINE „FRENETISCHE, HASSERFÜLLTE, ZÄNKISCHE ZEIT.“
Für Julian Barnes war die Belle Époque eine „frenetische, hasserfüllte, zänkische Zeit.“

Nicht zuletzt war eine der Disziplinen, in denen sich Dr. Pozzi besonders hervortat, die Hysterektomie, also die Entfernung der Gebärmutter. Damals fast eine „Modeoperation“, die Frauen von der ihnen innewohnenden Hysterie heilen sollte. Anstatt diese als psychisches Symptom der Zeit zu interpretieren.

Auch er (Julian Barnes) bedient sich aber so manchen Klatsches und so mancher Indiskretion. Ein gern immer wieder aufgegriffenes Motiv ist das französische Urteil über englische Frauen. Das, überraschender Weise, nicht sehr vorteilhaft ausfällt.

„Es gibt drei Geschlechter: das männliche, das weibliche und die Engländerin.“

so der französische Dichter Jules Laforgue. Gern greift der frankophile Julian Barnes, Sohn zweier Französischlehrer, die Gegensätze in der französischen und der englischen Weltwahrnehmung auf, beispielsweise in der Einstellung zu Liebe und Ehe. Eine andauernde Hassliebe, geprägt von gegenseitiger Bewunderung und Unverständnis.

Anhand von Anekdoten und Fundstücken, zwischen zahllosen Quellen mäandernd, bewegt er sich (Julian Barnes) spielerisch, anregend und vergnüglich durch die Epoche. Stets ist der Blick (selbst)ironisch und seiner eigenen Grenzen bewusst.

„Warum drängt es die Gegenwart ständig, über die Vergangenheit zu urteilen?“

AMÜSANTER SPAZIERGANG DURCH EINE EPOCHE
Verschiedene Male betont der Autor: „Wir wissen es nicht“, weiß um die Begrenztheit der historischen Sicht. Zumal sie sich hier auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht fokussiert. Erstaunlich, dass angesichts der Fülle an Material und der Vielzahl an historischem Personal, die Erzählung niemals droht, auseinanderzufallen. Dass vielmehr ein schillerndes Kaleidoskop entsteht, eine Art Wundertüte, aus der sich der Leser, die Leserin mit Gewinn bedienen kann. Dabei verfolgt der Autor bewusst eine gewisse Formlosigkeit, gruppiert sein Material kaum, vermeidet weitgehend einordnende Überschriften, verfährt sprunghaft. Viel mehr als eine historische Abhandlung ist Der Mann im roten Rock von Julian Barnes die amüsante Plauderei über eine Epoche.

Besonders schön ist die Ausstattung des Buchs mit zahlreichen farbigen Abbildungen von Gemälden und von Schokolade-Sammelbildchen aus der Serie „Célébrités Contemporaines“ von Felix Potin. Von den insgesamt 3×500 Bildern, die zwischen 1898 bis 1922 erschienen waren übrigens nur 65 mit weiblichen „Célébrités“ bedruckt. Und davon 43 mit „Künstlerinnen“ eher zweifelhafter Bedeutung (meistens Schauspielerinnen und Revuesternchen) und 11 Vertreterinnen europäischer Königshäuser. Auch das wirft einen interessanten Blick auf diese Belle Époque.


Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
17654 DR.B, Bar

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