Gotland : Roman

Stavaric, Michael, 2017
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-630-87543-9
Verfasser Stavaric, Michael Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Fiktionale Darstellung, Erzählende Literatur: Gegenwartsliteratur ab 1945, Erzählende Literatur, Wien, Sohn, Alleinerziehende Mutter, Zahnärztin, Christin, Fanatismus, Gotland, fanatischer Glaube
Verlag Luchterhand
Ort München
Jahr 2017
Umfang 348 Seiten
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Auflage
Sprache deutsch
Annotation Angaben aus der Verlagsmeldung



Gotland : Roman / von Michael Stavaric


Eine streng katholische Mutter - Zahnärztin mit eigener Praxis neben einer Stiftskirche in Wien und einem fanatischen Glauben, der die Bibel gefährlich wörtlich nimmt. Was macht das mit dem Sohn? Mit einem jungen Mann, der sich nach einem Vater sehnt und allerlei Begierden entwickelt, je älter er wird? Er wird zu einem Suchenden, vor allem nach dem Tod der Mutter. Zu einem Fahrenden in Sachen Gott, den er in Gotland zu finden hofft, jenem fernen Sehnsuchtsort der Mutter, die immer behauptete, dort hätte sie seinen Vater kennengelernt. Ein unheimlicher, heiliger, jedoch auch wahnsinniger Ort
Es gibt ihn, diesen Gott, der im Wasser schwimmt, der auf dem Wasser treibt und niemals untergeht, der allen, die am Ufer verharren, nachsieht und zuwinkt, es muss ihn einfach geben. Er scheint nah und zugleich fern, ein Schatten am Plafond, wie dunkel doch heut der Himmel ist, viel dunkler noch als die gekräuselte See, stumm die Fische darin und schwer sind ihre Bäuche.


Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Elisabeth Zehetmayer
Gottsuche in einer zunehmend devastierten Welt - fantastisch, mehrbödig, komplex. (DR)

Mit einem das Autorendasein parodierenden, amüsanten Vorwort beginnt Michael Stavaric seinen dreiteiligen, vielstimmig erzählten Roman, dessen komplexer Inhalt sich kaum wiedergeben lässt. Wesentlicher Ausgangspunkt dieses sprachgewaltigen Romans ist die Bibel mit ihrer Schöpfungsgeschichte. Biblische Ur-Szenen, archaisch wie das Alte Testament, sind darin verarbeitet. Der namenlose Ich-Erzähler wächst ohne Vater in einer von bigottem Katholizismus und Inzest geprägten Beziehung bei seiner Mutter, einer Zahnärztin, auf. Religionsphilosophische Betrachtungen laden zum Nachdenken und Diskutieren ein. Außerdem gibt es viele verschiedene, sich ineinander verästelnde Episoden und Bezüge zu Abenteuergeschichten wie "Das Herz der Finsternis" zu entdecken. Alles spielt auf mehreren Handlungsebenen, die Orte des Geschehens sind - wie schon in früheren Werken des Autors - nicht immer klar zuordenbar. Diesmal begab sich der in Wien lebende Autor für die Recherchen nach Gotland und arbeitete unter anderem mit Fotos als Inspiration. Doch wird die in der Realität existierende größte Insel Schwedens hier zu einem mystischen, dystopischen Ort, wo ein Gott über alles gebietet und alles Lebendige tötet und wo der empathielose, egozentrische Steinbruchbesitzer und Sektenführer Charles - das vielleicht abgespaltene Alter ego des bislang namenlosen Ich-Erzählers? - lebt. Ist er das personifizierte Böse? Kann man einer destruktiven Welt nur durch Wahnsinn entkommen?

Der Roman kann auch als Vexierbild einer gesellschaftlichen Verfassung gelesen werden. Die Charaktere sind archetypisch, die Erzählatmosphäre ist vorwiegend düster, besonders faszinierend fand ich die Verschiebung der Bedeutungsebenen. Spannung erzeugt unter anderem die Vermischung realer Welten mit einer archaischen, scheinbar fantastischen Welt. Ironische Brüche gönnen Atempausen in der zunehmend bedrohlicher werdenden Handlung. Der Autor schafft immer wieder Bezüge zu seinen vorangegangenen Büchern. Parallel zum Roman sind ein mit der Wiener Mundart spielender Lyrikband ("in an schwoazzn kittl gwicklt", Czernin 2017, eine Hommage an H.C. Artmann) und ein Kinderbuch ("Als der Elsternkönig sein Weiß verlor", Kunstanstifter 2017) erschienen, die beide im Roman "Gotland" anklingen. Eine abgründige, fordernde Lektüre - lesenswert!


Michael Stavaric lässt ihn in seinem neuen Roman töten

Während Utopisten im Dataismus ihr goldenes Kalb gefunden haben und dem Universalglauben an Algorithmen mit missionarisch leuchtenden Augen huldigen; während die deutschen Protestanten ihren jubilierenden Luther feiern und Jihad-Rapper ihr »Allahu akbar« intonieren, kiefelt man hierzulande nach wie vor an den alten Fragen: Gibt es Gott? Ist Gott böse? Kann Gott sich verbergen?

Derartiges verhandelt Michael Stavaric in seinem neuen Roman. Gott ist zunächst der große, freilich eben verborgene Protagonist. »Niemand kann sicher sein, kein Einziger kann jemals behaupten, es gäbe ihn, diesen Gott, unseren Heiland«, heißt es einleitend im ersten Absatz des Prologs, um im zweiten gleich widerlegt zu werden: »Es gibt einen Gott«. »Es gibt einen Gott« – auch im dritten Absatz, aber »Es gibt keinen Gott« im vierten. Gotland, von dem hier die Rede ist, ist keine Insel der Seligen, denen die Gründonnerstagsliturgie verkündet »ubi caritas et amor, Deus ibi est«. Auf Gotland wohnen nicht Güte und Liebe, sondern dunkle Nacht und »tödlicher, breiiger Schnee«.

Der darauf folgende erste Teil des Romans, »Genesis«, schlägt einen anderen Ton an. Es sind Kindheitserinnerungen der Hauptfigur, unschuldig munter zumeist und geprägt von der schönen, intelligenten, tief religiösen Mutter, Zahnärztin, sowie der katholischen Grundschule. Der biblische Gott ist omnipräsent wie der leibliche Vater quasi omniabsent ist. Der Knabe ist aufgeweckt und es entwickelt sich die Geschichte von einem, der auszog, Gottvater kennenzulernen. Er tut dies nolens volens auf eigene Faust. Er baut sich die eigene Schöpfung, erlebt Noah und die Flut als verwässertes Klassenschauspiel, stellt Gott nach Abrahams Opfer auf die Probe, legt sich seine Sexualkunde anhand lebender Objekte schulisch zurecht: Der Turnlehrer, Die Unreinheiten der Ziege, Die Schulärztin, Der Direktor heißen die zugehörigen anekdotischen Kapitel, in denen immer auch der Vergleich zu entsprechenden Bibelstellen unternommen wird.

Mit dem zweiten Teil des Romans, »Das Buch Charles«, wird sozusagen die andere Hälfte eines Flügelaltars geöffnet. Der gibt zunächst den Blick ins Schlafzimmer und die Scham der Mutter frei, schildert dann kapitelweise den ersten Geschlechtsakt des Erzählers, dessen frühe Recherchen zur Insel Gotland, auf der er seiner Vermutung nach gezeugt wurde, und deutet sein Verhältnis zur Mutter weiter aus. Zunehmend weicht der naive Erzählton einem rechtfertigenden Sinnieren über Erinnerungen, die immer wieder von scheinbar Erhellendem in Dunkles kippen. Die Erzählung nimmt mehr und mehr die Form eines obsessiven Verhörs an. »Ich wurde gefragt«, eine Formel, die bereits im Prolog auftaucht, wird gesteigert: »Ich wurde gefragt, immer wieder wurde ich gelöchert, warum gerade Gotland, warum ein sicheres Leben in den Wind schießen, warum nicht die Zahnarztpraxis der Mutter übernehmen, warum keine Zahnarztassistentin ehelichen, warum nicht glücklich werden mit Claudia, Rebecca oder Melanie, warum allen so viel Kummer bereiten, warum könne ich nicht leben wie alle anderen?…«

Zunehmend wird klar, dass es dem Autor nicht um die lineare Aufarbeitung einer brüchigen Idylle geht. Die folgenden Gotland-Kapitel zeigen eine Hauptfigur, deren Notate psychotische Inhalte wiedergeben. Charles Hansson – den Namen erfährt man aus dem Gutachten, das den Einblick in ebendiese beschließt – leidet an einer schizoaffektiven Störung. Befunde und Beurteilung, Fotodokumentation und Beweissicherung analysieren penibel, wie er zum geistig abnormen Rechtsbrecher wurde. Die Selbstdiagnose: »Vielleicht kann ich es mir so erklären: Ich war eine defekte Maschine, und das Zögern und Zweifeln, Vorwärtstasten und Rückwärtsrudern waren Teil meines sich zusehends immer mehr verfestigenden Makels?… In mir gab es nichts von Bestand: keine Liebe, keinen Glauben, keinen Gott.« Im Verhör, das Hansson mit sich selbst führt, hält er an seinen Vorwürfen an Got e95 t fest: »Er tat im Grunde nie etwas für uns Menschen, es mangelte ihm wohl an Zeit, Lust und Einfühlungsvermögen.« Ihn, so glaubt er, hat er getötet, bestialisch, nicht seine Mutter. Sein wahrer Vater bleibt ihm so ebenso verwehrt wie »das in weiter Ferne liegende verwunschene Gotland«.

Anders als diese verstörende inhaltliche Tristesse vermuten ließe, malt Stavaric den biblischen Gott, der zu allererst Angst macht, als Teufel dämonisch bunt und luziferisch an die Wand. Abstruse Mythologien, futuristische Untergangsszenarien, schauderhafte Martyrien: »Wir«, so halluziniert Hansson, »hatten dies (und viel mehr noch) schon tausende Male in drittklassigen Filmen gesehen.« Ob Stavaric etwas von jenem Wikingerhäuptling Stavar hat, »der in Stavgard gelebt haben soll, ein ›Herr der Stäbe, Pfähle, Kreuze‹, der einen jeden zu Brei schlug, der Gotlands Gott missachtete«, wie uns der Autor wissen lässt?

Die Geschichte der allerersten Kranken, welche über die Köpfe der Ärzte hinwegdonnert und erntet?…, in der sich der Schriftsteller Stavaric Kafkas Käfertrauma in Form eines Pfaus anverwandelt, steht am Schluss. Und der Leser erinnert sich: Ganz zu Beginn war schon einmal die Rede von Pfauenfedern, die dem Prolog-Erzähler einen wahnwitzigen Traum ausblenden. Es ist die kurze Groteske des Schriftstellers, der mit einem monumentalen Romanfragment seine Leser erschlägt: ein tödlicher Geniestreich sozusagen. Spätestens jetzt bewundert man die lustvoll gewiefte Komposition dieses Zoman noir, die bei erneuter Lektüre ein neues Licht auf das Gelesene wirft. Auch dieses Opus hat das Zeug zum Kultbuch, und sein Autor ist eine schillernde Figur.
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
12397 DR.E, Sta

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