Ich nannte ihn Krawatte : Roman

Flasar, Milena Michiko, 2012
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Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-8031-3241-3
Verfasser Flasar, Milena Michiko Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Belletristische Darstellung, Zurückgezogenheit, Aussteiger
Verlag Wagenbach
Ort Berlin
Jahr 2012
Umfang 139 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 3. Aufl.
Reihe Quartbuch
Sprache deutsch
Verfasserangabe Milena Michiko Flasar
Annotation Angaben aus der Verlagsmeldung



Ich nannte ihn Krawatte / von Milena Michiko Flaar


Ist es Zufall oder eine Entscheidung? Auf einer Parkbank begegnen sich zwei Menschen. Der eine alt, der andere jung, zwei aus dem Rahmen Gefallene. Nach und nach erzählen sie einander ihr Leben und setzen behutsam wieder einen Fuß auf die Erde.


Quelle: Apropos. Straßenzeitung für Salzburg, Ulrike Matzer
EINSICHTEN ZWEIER ESKAPISTEN

"Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte", erzählt der eine, ein Bursche um die zwanzig, ein Einzelkind, das den Erwartungen der Eltern nicht entspricht, sich dem sozialen Druck nach Anpassung entzieht. Nach anfänglichem Schuleschwänzen verkriecht er sich im Zimmer, isoliert sich innerhalb der Familie, ganze zwei Jahre lang. "Hikikomori" nennt man in Japan diese meist jungen Menschen, die das Leben "draußen" fliehen. Der andere ein Anzugträger, der seiner Frau verschwiegen hat, dass er arbeitslos geworden ist. Diese spielt still wissend mit, bereitet ihm täglich seine Brotzeit zu und hilft ihm so, Selbstachtung zu wahren.

Oder auch nicht. Denn in beiden Fällen schämen die Angehörigen sich und fürchten Schande. Auf zwei Parkbänken vis-à-vis freunden die "Sonderlinge" sich zaghaft an, stellen sich existenzielle Fragen - woraus sich eine berührende, lyrisch-melancholische Parabel über die Akzeptanz oder Verweigerung von Normen in unseren westlichen Dienst- und Hochleistungsgesellschaften entspinnt.


Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Monika Roth
Roman um eine heilsame Begegnung zweier Außenseiter der japanischen Leistungsgesellschaft. (DR)

Der vorliegende dritte Roman der jungen österreichischen Schriftstellerin Milena Michiko Flašar, Tochter einer japanischen Mutter, ist in seiner überzeugenden psychologischen Zeichnung der Charaktere, der knappen Sprache, die wie Eis auf einem zugefrorenen See in die Tiefe führt, und dem unbestechlichen Blick auf soziale Gegebenheiten ein stilles Meisterwerk. Die Autorin beschreibt die Begegnung zweier Außenseiter: Der 20-jährige Hiro Taguchi hat sich nach dem Selbstmordversuch seines besten Freundes in die elterliche Wohnung und sein Zimmer zurückgezogen und dieses zwei Jahre nicht verlassen - er ist ein Hikkikomori, wie in Japan meist jugendliche Personen bezeichnet werden, die sich dem Leistungsdruck der Gesellschaft durch totale Kontaktverweigerung, auch gegenüber der eigenen Familie, zu entziehen versuchen. Der 58-jährige "Salaryman" (so bezeichnet man in Japan männliche Firmenangestellte) Tetsu Ohara wiederum bringt es nicht übers Herz, seiner Frau zu gestehen, dass er seine Arbeit verloren hat und daher seinen Tag im Park verbringt. Hier trifft er auf Hiro, der sich - ein großer Schritt - nach zwei Jahren völliger Isolation ins Freie gewagt hat.

Langsam nähern sich die beiden Außenseiter einander an, erzählen sich ihre Lebensgeschichte, stellen sich ihren Ängsten und fällen beide mit der Hilfe des anderen eine für ihr Leben folgenreiche Entscheidung. Die Autorin hat die Handlung im heutigen Japan angesiedelt, hält aber in Interviews fest, dass es - in anderer Form - Hikkikomoris auch in der westlichen Welt gäbe. Ein Roman, der in der Figur des Hiro Taguchi der Frage auf den Grund geht, wie beengend eine Gesellschaft sein kann und ob es überhaupt möglich ist, sich jeder Kontaktaufnahme zu verweigern. Am Ende erkennt der langsam ins Leben zurückfindende Hiro, dass nicht nur er, sondern auch seine Familie Hikkikomoris waren, dass also sein Handeln unmittelbare Auswirkungen auf seine Umgebung hatte und der Versuch, völlig zu verschwinden, nur Illusion war. Sehr empfehlenswert.

Quelle: LHW.Lesen.Hören.Wissen, Markus Fritz
Zwei unterschiedliche Männer sitzen sich fast jeden Tag auf einer Parkbank gegenüber. Der jüngere, der Ich-Erzähler, hat Probleme, er zerschlägt Spiegel, arbeitet nicht und lebt bei den Eltern. Der ältere packt jeden Tag zu Mittag sein mitgebrachtes Essen aus, das ihm seit 35 Jahren seine Frau jeden Morgen zubereitet. Er hat ihr nicht gesagt, dass er seine Stelle verloren hat. Trotzdem tut er jeden Morgen so, als würde er zur Arbeit gehen. Im Mittelpunkt stehen zwei Männer, die aus dem Rahmen gefallen sind. Der Junge spricht kaum und besucht nur sporadisch die Schule. Der Junge gehört zu den Hikikomori, so werden junge Menschen bezeichnet, die wegen des großen Erfolgsdrucks bei den Eltern wohnen und aus Scham das Haus nicht verlassen. Sie sind Verweigerer. Der ältere erzählt von seiner Arbeit, von den jüngeren Kollegen, die ihn überholt haben, von einem dummen Missgeschick, das ihm den Job gekostet hat, von der großen Müdigkeit. Der Junge erzählt von seiner ersten Freundin, die gemobbt wurde und sich daraufhin das Leben genommen hat. Er hat ihr nicht geholfen. An einem Freitag geben sich die beiden Männer ein Versprechen: der ältere, dass er seiner Frau die Wahrheit sagt und der junge, dass er sich die Haare schneidet.

Am Montag kommt der alte Mann nicht. Nach 7 Wochen beschließt der Junge, ihn Zuhause aufzusuchen Dort empfängt ihn seine Frau und teilt ihm mit, er sei auf dem Heimweg an Herzversagen gestorben. Am Schluss rettet der Junge sich selbst durch das Schreiben. Ein einfühlsames kleines Buch über zwei Außenseiter, die sich gegenseitig wieder in das Leben zurückführen wollen. Der Roman spielt in Japan und stellt die Leistungsgesellschaft an den Pranger, die keinen Platz für Schwache und das Individuum lässt.


Quelle: Literatur und Kritik, Alexander Kluy
Zwei auf der Bank

Milena Michiko Flas?ars Roman "Ich nannte ihn Krawatte"

Geradezu habituell mutet die Klage der deutschsprachigen Literaturkritik an, Autoren wichen der Gegenwart aus; und vor allem jüngere und junge ignorierten rezente Vorgänge, Entwicklungen, Umwälzungen. Zum Jahreswechsel klagte ein Rezensent, immerhin leitender Literaturredakteur einer großen Berliner Tageszeitung, erneut sein Lese-Leid und kommentierte einen Ausblick auf den Jahrgang 2012 mit den Worten: "Literaturfähig scheint auch in diesem Jahr nur zu sein, was bereits durch mehrere Vollwaschgänge der Erinnerung gegangen ist und aus dem aller Schmutz der Aktualität rausgerubbelt wurde." Und Richard Kämmerlings, der 2011 mit "Das kurze Glück der Gegenwart" eine vermessen subjektive Literaturgeschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1989 veröffentlichte, in ebensolch nachlässigem Duktus weiter: "Dass man einfach mal mit dem Schreibbesteck auf das losgeht, was vor der Haustür liegt oder die Welt alles in Echtzeit zu bieten hat, das übersteigt bei vielen den Horizont. Oh, und man könnte ja auch mal wo hinfahren, auch wenn es da gerade keine Aufenthaltsstipendien gibt. Oder sich etwas ausdenken, heißt ja schließlich Fiktion."

Zum Glück, zum Glück der Literatur und zum Wohlgefallen der Leserschaft, ignoriert die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren souverän solche Forderungskataloge. Richtet ihr "Schreibbesteck" auf anderes; und fügt im besten Fall Haustür und Horizont zusammen. So wie dies die 30-jährige Wienerin Milena Michiko Flašar in ihrem jüngsten schmalen Buch macht.

Dieser Roman, den sie nach zwei Veröffentlichungen im Residenz Verlag nun dem Berliner Wagenbach Verlag anvertraut hat, ist, das Umschlagmotiv mit rotschillernden Kois spielt feinsinnig darauf an, in Japan situiert. Auf einer Parkbank. In überwiegend kurzen parataktischen Sätzen entfaltet Flašar in 114 kurzen Kapiteleinträgen die Freundschaft zwischen einem 20-jährigen und einem 58-jährigen. Die Tochter einer Japanerin und eines Öst 18e7 erreichers greift mit dieser Konstellation somit mitten hinein in aktuelles Wirtschaftskrisengeschehen. Und geht doch ganz anders vor; denkt man in literarhistorischen Bezügen, dann erinnert ihr Buch weitaus stärker an den Pariser Emmanuel Bove und dessen stille, unbewegte Helden oder an den Pariser Patrick Modiano und dessen zartgefasste, von Erinnerungen gefärbte Bücher als an nordamerikanische Romanpanoramen.

Denn Flašars junger langhaariger Mann ist ein "Hikikomori", wie das angefügte Schlussglossar erklärt also jemand, der sich aus der Welt in sein Zimmer zurückgezogen hat, den sozialen Kontakt selbst mit der nächsten, ihn umgebenden Familie auf das Allernötigste reduziert und eine Art Geisterleben führt. In der Regel, dies haben Erhebungen offen gelegt, kreist dieses freiwillige Sicheinschließen, das in einigen Fällen mehr als ein Dutzend Jahre durchgehalten wurde, um eine ausschließliche, recht nerd-haft monomanische Beschäftigung mit neuen Medien, vor allem mit Computer und Internet; in Japan soll es Schätzungen zufolge zwischen 100.000 bis 320.000 Betroffene geben. Dieser Taguchi Hiro verweigert sich den rigiden Leistungsnormen und den professionellen Anforderungen der japanischen Gesellschaft, sein "Ausstieg" wurde befeuert durch zwei Anlässe, infolge derer zwei Freunde zu Tode kamen. Zum einen durch die Freundschaft mit dem Gedichte schreibenden Kamamoto, der vor seinen Augen im dichten Tokioter Verkehr vor ein Auto lief. Und zum anderen durch den Suizid des Nachbarmädchens Yukiko, die in der Schule gemobbt wird, für sie einzutreten unterließ Hiro, aus Feigheit, das nächste Opfer zu werden. Scham zwingt ihn in die Knie, nachdem sich Yukiko aus einem Fenster gestürzt hat, und wirft ihn aus den vorgezeichneten sozialen Bahnen in Antriebslosigkeit, Depression und Weltenthebung.

Als einmal die Sonne ihn zu sehr nach draußen verlockt, gibt er nach, verlässt das Haus - seine Eltern sind wie immer früh zur Arbeit aufgebrochen - und setzt sich auf eine Bank in einem Park. Dort kommt er, nach und nach, zögerlich, dann intensiver, in Kontakt mit einem älteren Mann in Geschäftsanzug und Krawatte, der jeden Morgen um neun Uhr pünktlich erscheint, sich wie Hiro auf die Bank setzt und erst um sechs Uhr abends wieder nach Hause zu Frau und dem von ihr bereiteten Nachtmahl aufbricht. Die beiden Außenseiter, die zwei "Außensitzenden", kommen ins Gespräch, erzählen einander von sich, schütten sich ihr Herz aus. Der alte Mann, den Hiro "Krawatte" tauft, ist arbeitslos, will aber diesen Status seiner Frau gegenüber nicht enthüllen und bricht jeden Morgen bürogemäß gekleidet auf, als ginge er tatsächlich zur Arbeit. Eine Aussicht, jemals wieder in Anstellung zu gelangen, ist für ihn nicht vorhanden. Die Scham zwingt ihn außerhalb der sozialen Bahnen ins Abseits. Beide erzählen sich Vorgänge, Erlebnisse, Einschnitte ihres Lebens, teilen sich ihre Bedrängnisse mit und ihre neurotischen Schlüsselerlebnisse. Satz für kunstvoll schlichten Satz blättert Flašar zwei Lebenskosmen auf, wie sie aktueller und psychosozial wie ökonomisch bedrängender kaum sein könnten. Und eindringlicher auch nicht, wenn etwa "Krawatte" erzählt von seinem behindert zur Welt gekommenen Sohn, der vor 31 Jahren verstorben ist, von seiner seelischen Zerrissenheit, von verlorener und wieder gefundener Liebe zu seiner Frau.

Auch wenn hie und da das Poetische von überzogener Ambition zeugt und dann ins Banale und Kitschige abstürzt ("Ich trieb im Gewässer meiner Ahnungslosigkeit. Durch den Spalt in den Vorhängen schien der Mond darauf."), wofür vielleicht auch der Verlag, in dem immerhin seit zehn Jahren kein deutscher Roman als Originalausgabe betreut worden ist, ein Gran Verantwortung trägt, bei diesem einfach zu lesendem Buch handelt es sich um eine bemerkenswerte Prosastudie über Labilität und Bewusstsein, Desperatheit und Sichverlassen, Sichfinden, Einsamkeit und den Spiegel der Wahrnehmung, der durchzuschreiten ist. Hiro findet am Ende tatsächlich, durch die Kraft der Gespräche, zurück ins Leben, in das, was landläufig-vorschnell "Normalität" geheißen wird. Dass sich dramaturgisch am Ende dann einiges als Illusion erweist und dabei fast den Anschein auktorialer Trickserei aufweist, mindert zwar ein wenig die Tiefe der Gefühlsabgründe, reflektiert allerdings trefflich die autistische Irritation und die verstörte Blindheit der Protagonisten, die wie wertvolle Koi-Fische einander umschwimmen. Das Idyllische ist weiterhin brüchig, und bleibt es. Wofür Milena Michiko Flašar einen bemerkenswert angemessenen, respektabel ruhigen Tonfall jenseits aufstäubender Artistik gefunden hat.
Bemerkung Katalogisat abgeglichen mit: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
6669 DR.E, Fla

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