Über Nacht : Roman

Gruber, Sabine, 2008
Bücherei Zams
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Reservierungen 0Reservieren
Medienart Buch
ISBN 978-3-406-55612-8
Verfasser Gruber, Sabine Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Belletristische Darstellung, Rom, Fiktionale Darstellung, Junge Frau, Journalistin, Wien, Organspende, Alleinerziehende Mutter, Altenpflegerin, Ehekonflikt
Verlag Beck
Ort München
Jahr 2008
Umfang 237 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 2. Auflage
Sprache deutsch
Verfasserangabe Sab 498 ine Gruber
Annotation Ein einziger schicksalhafter Augenblick verändert Leben

In ihrem neuen Roman erzählt Sabine Gruber die Geschichte zweier Frauen in zwei verschiedenen Städten, Mira in Rom und Irma in Wien. Beide Frauen leben mit einem beunruhigenden Verdacht: Mira ist Altenpflegerin und sorgt sich um ihre Ehe. Der eigene Mann wird ihr immer fremder, sie findet sich in der Rolle der Detektivin wieder, spioniert ihm hinterher. Warum schläft ihr Mann nicht mehr mit ihr? Irma zieht ihr Kind allein groß, sie ist Kulturjournalistin und interviewt Menschen mit aussterbenden Berufen, stellt sich aber vor allem selbst Fragen: Wer ist der Tote, der ihr mit seinem Spenderorgan ein neues Leben ermöglicht? Wie lebt es sich mit einem fremden Teil im eigenen Körper? Wie als Überlebende? Zwei Frauen auf Spurensuche, zwei Frauen voller Liebes- und Lebenssehnsucht. Was verbindet die beiden?
"Über Nacht" ist auch ein Buch über das Alter als Realität und Utopie, über den Zufall als Lebens- und Todesmacht und über die Verquickung von Leben und Schreiben. Locker anknüpfend an die Thematik ihres vielgelobten Romans "Die Zumutung", erzählt Sabine Gruber in ihrer schönen, bilderreichen Sprache von den Überraschungen des Lebens und der Willkür des Gerettetwerdens, von der Zerbrechlichkeit der Liebe und dem Aufflammen einer neuen, von Freundschaft und Fürsorge und vom Tod, der erfinderisch macht.

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Barbara Rieder
Geschichte zweier Frauen, deren Leben frappierende Parallelen aufweist. (DR)

Die Puzzlesteinchen, aus denen sich die Biografien von Irma und Mira zusammensetzen, ähneln sich auf erstaunliche Weise. Irma lebt als alleinerziehende Mutter in Wien, ist Dialysepatientin und wartet auf eine Spenderniere. Sie schreibt Reportagen über aussterbende Berufe. Die Altenpflegerin Mira lebt in Rom, verheiratet, kinderlos. Seit geraumer Zeit sucht sie nach Erklärungen für das abweisende Verhalten ihres Mannes, eines Möbelhändlers.

Steinchen für Steinchen fügen sich die Lebensstränge der beiden Frauen aneinander. So lernte z.B. Irma den Vater ihres Kindes in Rom kennen – den wir an anderer Stelle des Buches als Angehörigen eines Patienten in Miras Altenheim wiedertreffen. Die tägliche Nähe zum Tod ist bei beiden Frauen spürbar. Irma kämpft mit den seelischen Narben nach der Nierentransplantation, der Gedanke an das Schicksal des Spenders lässt sie nicht los. Mira pflegt tagtäglich Alte und Leidende mit einer geradezu stoischen Gelassenheit. Dass beide Protagonistinnen ein Problem mit ihren Beziehungen haben, ist augenfällig, ebenso wie das beiderseitige Faible für Vögel.

Der Pfad, auf dem die LeserInnen durch das Leben der Frauen geführt werden, ist kunstvoll verschlungen. Die Namen Irma und Mira bestehen aus den selben 'Buchstaben“ - das tatsächliche Ausmaß der Beziehung zwischen den Frauen enthüllt die Autorin erst am Ende des Buches.

Trotz der ernsten Grundstimmung ist Sabine Grubers Roman leicht und flüssig zu lesen, die Autorin versteht sich darauf, das Leben trotz aller Widrigkeiten positiv und schwerelos zu beschreiben. La vita è bella – trotz allem.

Quelle: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Birgit Holzner
Unser Lebensfaden hat eben eine andere Farbe, heißt es in Sabine Grubers neuem Roman, und: besser eine andere Farbe als schlecht gewoben. Über Nacht ist die Geschichte zweier Frauen, der über aussterbende Berufe forschenden, allein erziehenden Mutter Irma und der Altenpflegerin Mira, deren Lebensfäden in Wien und Rom ganz erstaunliche Parallelen aufweisen: Beide sind überzeugt, dass wir durch glückliche oder unglückliche Fügungen geboren werden, und dass es manchmal sogar der Zufall ist, der uns auslöscht. Beide leiden unter brüchigen Beziehungen (in der Liebe kann man keinen Fehler machen), haben einen homosexuell veranlagten Freund (eine gut gebundene Krawatte ist der erste ernsthafte Schritt ins Leben), legen ihr Handy beim Autofahren zwischen die Beine und haben ein auffallendes Faible für Vögel (ursprüngliche Lauftiere, die mit Sprüngen und Flattern versucht haben, schneller zu werden und nur durch Zufall das Fliegen erlernten). Irma zählt mit ihrem Geliebten Rino auf dem Weg durch die Stadt die Vögel; der Sieger, so wird vereinbart, darf den Ablauf des Abends bestimmen, während Mira mit einem alten Mann im Pflegeheim über die Summe der Stare um Zigaretten wettet.

Für Irma war das Glück schon unglaubwürdig geworden, sie wollte dem Tod noch einen Sinn abtrotzen. Entgegen den Mahnungen ihrer Mutter, wer in der Nacht anrufe, könne nur der Tod persönlich oder dessen Botschafter sein, erhält sie ausgerechnet eines Nachts den erlösenden Anruf aus dem Krankenhaus: "Wir haben eine Niere für Sie". Seit ihrer Nierentransplantation hat sich ihr Sterben auf Raten in ein Leben auf Raten verwandelt. Doch sie wird immer wieder daran erinnert, dass sie ihr Leben einem fragwürdigen Tod, nämlich jenem eines Fremden verdankt, sie hat immer wieder das Gefühl, als hätte ihr Blick sich nach der Operation verändert, als schauten noch ein Paar andere Augen aus ihr heraus, die nicht ihre eigenen wären. Auf der Suche nach Unfallopfern durchblättert sie den Chronikteil der Zeitungen. Um mit der Ungewissheit und dem fremden Organ besser leben zu können, um ihrer Spenderin das Leben zurückzugeben, erfindet Irma eine Tote.

Mira ist alten Männerkörpern gegenüber längst abgestumpft, sorgt sich vielmehr über ihre Soll-Ehe mit Vittorio, den philosophischen Möbelhändler, der mit seinen Kunden den Stuhl, das stützende Skelett zwischen Himmel und Erde, mit ihr den Tisch teilt, der per se alles zweiteilt, da er Unterleib, Beine und Füße dem Blick entzieht. "Ein Mann, der keinen Sessel hat, hat nichts", klebte jahrelang auf seinem Schaufensterglas. Mit Rino versucht sie sich über die Männerbekanntschaften ihres Mannes hinwegzutrösten; sie spazieren an einem Drehorgelspieler mit entstelltem Gesicht vorbei, der sich einen Karton umgehängt hat, auf dem zu lesen steht: Spenden Sie für meine Operation.

Nach Die Zumutung, deren Heldin Marianne an einer schweren Nierenkrankheit leidet und einen Wettlauf gegen die Zeit führt, in dem sie ein verändertes Körperbewusstsein, eine neue Auseinandersetzung mit der Umwelt an den Tag legt und den Tod abzulenken versucht, lässt Sabine Gruber Marianne in ihrem dritten Roman immerhin noch eine Nebenrolle spielen und wagt sich ein zweites Mal an das umstrittene Thema. Spätestens die Gesichtstransplantation nach einer Kampfhundattacke in Frankreich hat wieder eine mediale Debatte um Organtransplantationen ausgelöst, die bis zum Vorwurf des Kannibalismus reicht. Werde die Frau das transplantierte Gesicht behalten, einer Toten wie aus dem Gesicht geschnitten sein? Was den Tod ausmache, könnten nicht die Ärzte entscheiden, lautet das Argument derer, deren Leben nicht an einem seidenen Faden hängt. In Österreich gilt wie in vielen europäischen Ländern die Widerspruchslösung; jeder ist ein potentieller Spender, nur dem, der sich schriftlich dagegen verwahrt, werden keine Organe entnommen.

Über Nacht ist ein canone inverso, ein Spiegelkanon, sprachlich brillant und sehr poetisch, ein ungemein atmosphärischer Roman, der sich zusehends zuspitzt. Sabine Gruber paart wie Vögel in der Luft Raum und Zeit, erzählt ein Leben in den Wolken, zwei Biographien, ohne Distanzen und Lügen, ohne unwichtige Details auszulassen, und vermag dadurch eine ungeheuere Nähe herzustellen. Was verbindet Irma mit Mira? Wo ist der Knopf im Lebensfaden? Ist es der römische Möbelhändler mit den zwei Eheringen, bei dem Irma das schwarz gerahmte Foto jener jungen Frau ent 2000 deckt, deren Bild ihr noch einmal im Altersheim begegnet, oder Rino, der sich mehr für Filmfehler, verschwindende Requisiten und historische Unmöglichkeiten interessiert als für die eigenen Lebensfehler? Sabine Gruber verspinnt einmal in der ersten Person, einmal in der dritten Person die beiden Frauenschicksale, führt den Leser auf eine falsche Spur und erzeugt dadurch ungemeine Spannung: Denn warum die beiden Protagonistinnen Irma und Mira aus gleichem Holz (und den gleichen Buchstaben) geschnitzt sind, das erfährt der Leser erst auf der allerletzten Seite.

Quelle: Literatur und Kritik, Cornelius Hell
Der Rand des Körpers

Über Sabine Grubers neuen Roman

Wohin ich auch gehe, ich komme über meinen Körper nicht hinaus." Irma, die diesen Satz in Sabine Grubers Roman "Über Nacht" äußert, war etwa drei Jahre lang Dialyse-Patientin, nachdem sie bei der Geburt ihres Sohnes Florian einen Nierenkollaps erlitten hatte. Dann hat sich über Nacht ihr Leben verändert: "Frau Irma Svetly? Allgemeines Krankenhaus. Wir haben eine Niere für Sie", lautete der Anruf. Die rigide Diät während der Dialyse, die neue Unbeschwertheit nach der Operation, die Angst, ob das neue Organ angenommen oder abgestoßen wird - der Roman ist präzise in den Details. "Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen", steht im "Tractatus" von Wittgenstein. In Sabine Grubers Roman wird mit unpathetischer Deutlichkeit klar: Die Welt des Gesunden ist eine andere als die des Kranken. "Irma hatte Schuhe gekauft und fragte sich zum ersten Mal nicht, wie viele Schritte sie damit noch gehen würde." - In Sätzen wie diesem kommt die Brüchigkeit der neuen "Normalität" zum Vorschein. Ein Künstler, der propagiert, es "würde auf den Inhalt, nicht auf die Dauer des Lebens ankommen", oder eine alte Frau im Fernsehen, die stolz ist, dass sie schon eine Verabredung mit dem Tod hatte, aber nicht hingegangen ist: All das wird als Phantasie der Gesunden entlarvt: "Die Gesunden können sich nicht vorstellen … daß man keine Wahl hat."

Der eigene Körper wurde für Irma der "Nullpunkt eines Koordinatensystems… mit dessen Hilfe sie alles um sich herum einteilte" und ein "Gefäß von Gewohnheiten, das ihr mit einem Mal alles andere als ureigen, als unveräußerlich erschien". Leben mit dem Organ eines Toten und nicht zu wissen, wer dieser Mensch war, damit kommt Irma nicht zurecht. Sie unternimmt verzweifelte und absurde Versuche um dahinterzukommen, wem sie ihr neues Leben verdankt, wessen Organ Teil ihres Körpers geworden ist.

Eine selbstverständliche, spürbare Körperlichkeit zeichnet Sabine Grubers

Roman aus, und sie kommt noch auf andere Weise zum Tragen, denn zu Irmas Geschichte in Wien läuft eine Parallelerzählung in Rom. Mira heißt die Parallelfigur; sie ist Altenpflegerin. Die Geschichten um die hinfälligen Greise in der Klinik gehören mit ihrem nicht moralisierenden Blick auf Alter und Sex zu den schönsten Passagen dieses vielschichtigen Buches: Carelli, der Mira an den Busen greift, hat Angst, sie ließe sich sein Gegrapsche nur aus Mitleid gefallen und bittet sie um Pornohefte, denn: "Auch wenn sich da unten nichts mehr tut, habe ich noch immer einen Kopf, verstehen Sie?"

Überhaupt gehört es zu den großen Vorzügen dieses Romans, was er auf nur 240 Seiten alles an Welt einfangen kann. Man erfährt viel über die Faszination alter Stühle, denn Miras Mann ist Designspezialist und Händler alter Möbel, wobei sich sein ursprünglicher Geschäftssinn auf bedrohliche Weise zunehmend in Sammelleidenschaft verwandelt. Man liest von ausgestorbenen Berufen wie Perückenmachern oder Schriftsetzern, denn Irma, die Kulturjournalistin, interviewt ihre letzten Vertreter für ein Projekt der Arbeiterkammer. Und mit Mira weiß man um die menschenunwürdigen Bedingungen der Erntearbeiter auf den apulischen Tomatenfeldern. Natürlich erfährt man auch viel über das Milieu homoerotischer Beziehungen, denn Richard, Irmas Bruder, ist homosexuell, und sein Freund Davide wird zum fürsorglichen Ersatzvater ihres Sohnes. Sabine Gruber versteht es, von diesem Weltwissen immer nur gerade so viel aufzutischen, dass man mehr erfahren möchte. Und als gebürtige Südtirolerin kennt sie sich in Rom ebenso gut aus wie in Wien.

Das Thema Dialyse hat Sabine Gruber schon in ihrem letzten Roman "Die Zumutung" gestaltet. Dessen Hauptfigur Marianne hat in den neuen Roman Eingang gefunden als jene Freundin Irmas, die noch immer auf eine Spenderniere wartet. Wobei der Name Irma aus der ersten Namenshälfte von Marianne gebildet ist - ebenso wie die über das identische Buchstabenmaterial verschwisterte Mira in Rom.

Sabine Gruber weiß, wovon sie spricht und kennt ihren Stoff genau, lebt sie doch selbst mit der Niere ihrer Mutter. Aber nicht die eigene Betroffenheit schafft die Intensität dieses Romans, der wie ein Paradefall zeigt, was große Literatur ausmacht: ein spezifisches Thema, eine Sprache, die ihm gerecht wird, und eine genaue Konstruktion. Gerade die Konstruktion und Formbewusstheit der Autorin ist in fast allen Rezensionen hervorgehoben worden.

Fragt sich nur, ob Sabine Gruber dabei nicht gelegentlich ein wenig zu viel des Guten getan hat. Wenn sich etwa am Ende des Buches herausstellt, dass die Geschichte Miras eine Phantasie von Irma ist, so kommt dabei ein uraltes Mittel aus der Trickkiste der Erzähltechnik zum Einsatz, der international beliebt zu sein scheint (man findet ihn in litauischen Erzählungen ebenso wie in Vladimir Zarevs in diesem Frühling auf deutsch erschienenem Roman "Verfall") und sich ziemlich abgenutzt hat. Austariert ist diese Überkonstruktion des Romans "Über Nacht" freilich durch die in ihrer Einfachheit ergreifenden Geschichten, in denen viele Ängste und Sehnsüchte auf unprätentiöse, aber immer genau kalkulierte Weise und ohne jeden didaktischen Unterton zur Sprache kommen.

An anderen Stellen ist die Konstruktion selbst eine Stärke: etwa wenn mit dem zu Romanbeginn geschilderten Schwarm von Staren in Rom ein konkretes, sich nach genauen Gesetzen bewegendes Bild erscheint und damit gleichzeitig die antiken Auguren evoziert werden. Die Wiederkehr dieses Bildes ist sparsam eingesetzt und genau motiviert. Eine fein gesponnene Verbindungslinie sind auch Irmas Träume von Sandlandschaften. Und die Verknüpfung der beiden Geschichten über den Casanova Rino funktioniert überzeugend.

An allen Ecken und Enden wirft der Roman auch wichtige Fragen auf: nach der Individualität und Planbarkeit des Lebens angesichts des blinden Zufalls, nach dem Umgang mit alten Menschen ("Die Alten müssen sich immer benehmen, irgendwelchen Anforderungen genügen") oder nach dem Wert der Vergangenheit. Immer wieder wird deutlich, wie die Organtransplantation zur Auseinandersetzung mit dem eigenen wie mit fremdem Sterben zwingt. An keiner Stelle jedoch droht auch nur entfernt die Gefahr eines Thesenromans, denn die geäußerten Gedanken entspringen organisch und ohne jede Gewolltheit aus den Figuren.

Ein Ergebnis der disziplinierten Konstruktion dieses Buches ist auch sein geringer Umfang, mit dem es literarisch mehr leistet als viele Romane, die sich über hunderte von Seiten ausbreiten. "Über Nacht" ist faszinierend in seinen Mikroszenen wie in deren Zusammenhang.
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
22333 DR.E, Gru

Leserbewertungen

Es liegen noch keine Bewertungen vor. Seien Sie der Erste, der eine Bewertung abgibt.
Eine Bewertung zu diesem Titel abgeben