Wovon wir leben : Roman

Birnbacher, Birgit, 2023
3 Sterne
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-07335-7
Verfasser Birnbacher, Birgit Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Familie, Liebe, Einsamkeit, Österreich, Erzählende Literatur: Gegenwartsliteratur ab 1945, Mutter, Frau, Dorf, Zukunft, Jahrhundert, Krankenhaus, Landleben, Gesundheit, Freiheit, Fabrik, Neoliberalismus, Arbeit, Soziologie, Kapitalismus, Pflege, Empathie, Bachmannpreis, Ingeborg Bachmann, Grundeinkommen, Ich an meiner Seite
Verlag Zsolnay, Paul
Ort Wien
Jahr 2023
Umfang 192 Seiten
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Auflage
Sprache deutsch
Verfasserangabe Birgit Birnbacher
Annotation Ein literarischer Roman über die brennenden Themen der Gegenwart: Das neue Buch der Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher

Birgit Birnbacher, der Meisterin der „unpathetischen Empathie“ (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau), gelingt es, die Frage, wie und wovon wir leben wollen, in einer packenden und poetischen Sprache zu stellen.
Ein einziger Fehler katapultiert Julia aus ihrem Job als Krankenschwester zurück in ihr altes Leben im Dorf. Dort scheint alles noch schlimmer: Die Fabrik, in der das halbe Dorf gearbeitet hat, existiert nicht mehr. Der Vater ist in einem bedenklichen Zustand, die Mutter hat ihn und den kranken Bruder nach Jahren des Aufopferns zurückgelassen und einen Neuanfang gewagt. Als Julia Oskar kennenlernt, der sich im Dorf von einem Herzinfarkt erholt, ist sie zunächst neidisch. Oskar hat eine Art Grundeinkommen für ein Jahr gewonnen und schmiedet Pläne. Doch was darf sich Julia für ihre Zukunft denken?

Pressestimmen
"Ein Buch, das bewegt und das man mit sich nimmt, auch wenn man es beiseitegelegt hat. Birgit Birnbacher ist eine leise, aber ungemein fesselnde Erzählerin." Frank Pommer, Rheinpfalz, 21.02.23

"Birgit Birnbacher erzählt in ihrer behutsamen, eindringlichen Sprache enorm viel. Man spürt dieses Buch, man wird es sich lange merken." Barbara Beer, Kurier, 19.02.23

"Obwohl die Autorin klare Worte für die zwischengeschlechtlichen Kümmernisse im Dorf findet, ist das Buch keine Klageschrift – eher teilnehmende Beobachtung. Kühl, protokollarisch, realistisch." Katharina Teutsch, FAZ, 18.02.23

"Ein Glücksfall von einem Buch. [...] Dieser künstlerische Akt wirkt bei Birnbacher nie gekünstelt, die Empathie ist unpathetisch, das soziale Anliegen nicht moralisierend. […] Dieser fantastische Roman riecht nach Leben." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 18.02.23

"Es tauchen Fragen auf, die nur jene kaltlassen können, die blind und taub und ohne Empathie durchs Leben stolpern." Bernhard Flieher, Salzburger Nachrichten, 18.02.23

"Leise und poetisch. [...] Ihre Worte klingen noch lange nach." Franziska Trost, Kronen Zeitung, 18.02.23

"Genau und feinfühlig" Irene Prugger, Wiener Zeitung, 18.02.23

"Birnbachers Schreiben ist differenziert und empathisch." Wolfgang-Huber Lang, APA, 17.02.23

"Ein kluger Roman!" Alice Pfitzner, ORF, 16.02.23

"Roman der Stunde [...] Schlicht, aber keineswegs ostentativ auf coole Lakonie getrimmt.[…] Immer wieder funkeln hier anmutig rhythmisierte und pfiffige Sätze." Klaus Nüchtern, Falter, 15.02.23

"Birgit Birnbacher beherrscht die Kunst des Erzählens [...], schreibt schnörkellos, wenn sie tief in die Psyche ihrer Protagonisten eindringt, wenn sie deren Geschichten erzählt. […] Birnbacher lässt auf der inneren Reise ihrer Hauptfigur nichts aus und geht mit Verve dorthin, wo es beim Lesen mitunter wehtut. [...] Ein Buch, das man nur ungern aus der Hand legt." Helmut Atteneder, Oberösterreichische Nachrichten, 14.02.23

"Und da ist es wieder das Ungesagte, das nicht Hingeschriebene, sind es die Leerstellen im Text, die dessen Besonderheit ausmachten." Konrakd Holzer, Buchkultur, 10.02.23

"Birnbacher schafft es, auf 192 Seiten eine komplexe Geschichte von Arbeitslebenswelten und Arbeitslosigkeit zu erzählen und dabei sehr genau ein Bild unserer Gesellschaft zu zeichnen.“ Judith Hoffmann, Ö1, 02.01.23


ORF Topos vom 24.2.2023 von Gerald Heidegger
Birgit Birnbacher

Mit dem Text gegen die Wände

Seit Alfred Döblins Franz Biberkopf aus dem Roman „Berlin Alexanderplatz“ darf in der Literatur mehr gewollt werden als das berühmte Butterbrot. Bloß: Bis in alle Nischen der Welt hat sich das noch nicht herumgesprochen. Von einer Welt, in der das Butterbrot zu genügen hat, handelt Birgit Birnbachers neuer Roman „Wovon wir leben“. Ihre Heldin schickt sie ins Salzburger Innergebirg zurück, wo die Autorin selbst aufgewachsen ist. Dass ihre Sprache immer trifft und sich nicht „aufpudelt“, wie die Autorin über ihr Schreiben sagt, hat viel mit den Wänden der Herkunftswelt zu tun.
Es ist ein altmodisches, schönes und zugleich brutales Wort: Innergebirg. Der altertümliche Begriff, der die Salzburger Bezirke Pongau, Lungau und Pinzgau meint, ist in den letzten Jahren wieder ein wenig in Mode gekommen. „Ich liebe diesen Begriff, ich sag ihn schon so gern“, meint die Mitte der 1980er Jahre in Goldegg geborene Autorin und Bachmann-Preisträgerin Birnbacher im Gespräch und erinnert sich daran, dass sie in ihrer Herkunftsgegend selbst eigentlich immer eine Beobachterin gewesen sei. „Ich habe die Leute bei uns auf dem Dorf immer schon irgendwie als Figuren wahrgenommen“, sagt Birnbacher, fügt aber bald hinzu, dass sie das nicht abwertend meine, sondern damit nur ein Gefühl eines nicht Dazugehörens ausdrücken will. „Wahrscheinlich hat mir in meiner Jugend eine Person gefehlt, die mich an der Hand nimmt und mir zeigt, dass man etwas mit Leidenschaft machen darf“ – in einer Gegend, in der das Funktionieren groß geschrieben wird.

Dazwischen steht der Tennenstock
Julia Noch heißt die Heldin ihres jüngsten und wie immer klar und ökonomisch erzählten Buches, die zurückgeschickt wird an den Ort ihrer Kindheit, nachdem sie den Job „in der Stadt“ verloren hat – und wieder in eine Welt zurück muss, in der das Gesetz des Vaters gilt (und die Mutter verschwunden ist). Es ist durchaus ein Risiko, eine junge Frau in einem literarischen Text ins Innergebirg zu schicken. Man muss ja durch Tunnel durch, durch den Tennenstock – und muss damit auch an den Erkundungen dieser Landschaft bei Thomas Bernhard vorbei. Sein Roman „Frost“ und der Weg mit den vor Schlaf erschöpften Pendlern, die sich im Zug irgendwie durch das Skylla und Charybdis des Pass Lueg durchdrücken, hat ja nicht zuletzt der Gegend zwischen Goldegg, Schwarzach und St. Veit alles andere als ein schmeichelhaftes Denkmal gesetzt. Bernhard hat sich mit „Frost“ seine Position in der Gegenwartsliteratur erschrieben – er hat die Landschaft mitcodiert mit ihrer Kälte – und auch dem Stumpfsinn, der jedes Gemeinwesen bei Bernhard durchwirkt.
Dass es eine verdichtete Kunstlandschaft ist, macht die Sache für die Gegenwart nicht einfacher, auch wenn Birnbacher in ihrem Roman die Ortsnamen ausspart – und dabei die Orte aber erneut sehr wiedererkennbar macht. Die Übermacht von Bernhard schiebt sie freilich unbekümmert beiseite: „Ich bin nun einmal in der Gegend aufgewachsen, die Thomas Bernhard besonders gehasst hat. Ich konnte diesen ganzen Diskurs sehr gut beiseiteschieben, weil es ja für mich, und das ist ja auch typisch Innergebirg, gar nicht vorstellbar ist, dass ich etwas mit Bernhard zu tun habe.“ Was sie nicht wegschieben konnte, sei der Berg gewesen, auf den sie ihr ganzes Kindheits- und Jugendleben geschaut habe – „und ich kann ja diesen Berg nicht aussparen, nur weil es ihn auch bei Thomas Bernhard gegeben hat“, fügt sie lachend hinzu.

‚Zu Hause‘ im Innergebirg, das von der Stadt kilometermäßig bloß eine Autostunde entfernt gewesen wäre, zugleich aber durch ein Bergmassiv und vier Tunnel abgetrennt ist, habe ich lange nicht davon geträumt, eines Tages in der Stadt zu leben. Träumen stand nicht auf dem Plan. Irgendetwas werden stand auf dem Plan, und ginge es nach den Eltern, wäre ich damals, nach dem Absolvieren der Pflichtschule und der Bürolehre im Autohaus, bereits genug ‚geworden‘. Man muss zufrieden sein."
"Im Innergebirg ist es ja auch schön. Ich liebe ja auch das Wort Innergebirg, weil es so brutal ist, und dieses Verschlosse 2000 ne, Karge, das hat ja auch etwas sehr Schönes. Ich versuche, das in meinem Roman auch deutlich zu machen. Ich verspüre ja eine fast sentimentale Liebe zu meinem Kindheitsort Goldegg. Da ist nicht nur Grobheit, sondern auch viel Schönheit. Das ist auch in den Menschen. Das Grobe muss man sagen dürfen. Und das Innergebirg war ja auch grob zu mir, gegenüber der Sprache, gegenüber mir als Person. Auch, dass alles abgelehnt wurde, das man nicht unbedingt gebraucht hat. Das hat mir auch wehgetan. Und jetzt tu ich dem Innergebirg weh."

Die Ökonomie der Beobachtung
Womit Birnbacher in ihrem neuen Roman erneut trifft und ihre Stellung in der Gegenwartsliteratur untermauert, ist die Klarheit der Erzählung, die Ökonomie der Beobachtung – und das Zusammenziehen von Beobachtung, Erzählung und Kommentar, oftmals auf der Satzebene. Julia Noch findet bei ihrer Wiederbegegnung die Erwartung an ihre Rolle als unverändert vor. „Jeder hat seinen Platz, wer ihn freilässt oder tauscht, fällt auf, wer neu dazukommt, umso mehr“, liest man im Roman: „Auch die, die mich kennen, kennen mich ja nicht mehr. Und von denen, die ich kenne, wüsste ich lieber nichts.“ Wer sich aus der Welt des Innergebirgs rausbewegt hat und wieder retourkommt, befindet sich immer in diesem Limbo zwischen Unsichtbarkeit und Rollenerwartung aus der Vergangenheit. Geschickt konstruiert Birnbacher den „Städter“, der sich im Luftkurort befindet, um wieder gesund zu werden und an den sich die Frau, die an einer Lungenschwäche leidet, mit einem Hauch an Erotik hinwendet. Da aber auf dem Territorium des einstigen Protestantismus keine Erotik Platz hat, bleibt eine kleine Sehnsucht als Triebfeder der Erwartung an den weiteren Verlauf des Textes.

Der Text ist mitunter so schonungslos, wie die Leute, die er beschreibt. Atem und Arbeit nennt Birnbacher die zwei bestimmenden Themen des Textes. Und es sind Themen, die für sie gerade durch die Herkunft und die Ökonomie des Erzählens nur in dieser Landschaft, vielleicht dann doch auch wegen der literarischen Vorbilder, angesiedelt sein können. Das, was man bei ihr als Lakonie oder Kargheit bezeichne, komme aus der Erziehung in einer Gegend, in der das „Zuviel“ nie zulässig gewesen sei. „Ich habe das schon so erlebt, dass jegliche Art von Genuss eigentlich nicht erwünscht ist“, beschreibt Birnbacher das Lebensgefühl im Innergebirg ähnlich wie ihre Heldin: „Man soll nach außen hin ein gelingendes Leben haben, aber es soll nicht zu schön sein oder darin Genuss vorkommen. Es soll so sein, dass es niemanden aufregt. Die Genussfreude oder die Leidenschaft wurden als Werte nicht an die Aufwachsenden weitergetragen.“

Entlang der kurvigen Bundesstraße werden die Kreuze, die an die Verkehrstoten erinnern, mehr. Die hässlichen Schriften auf den Firmengebäuden: Autoteile, Reifen, Farben, Lacke. Alles ist zweckmäßig. Jeder Anflug von Schönheit ist schwul, alles Liebe weinerlich.

Wenn Sprache schön sein will, ist sie sofort nicht mehr schön
Aber, so fügt sie auch hinzu: Aus der Liebe zu der kargen Sprache, wie sie sie im Innergebirg gelernt habe, entstehe ein für ihr Schreiben wichtiges Moment. So wie im Dialekt oft viel mehr gemeint sei als ausgedrückt würde, gehe es ihr mit der Übersetzung dieses Österreichischs in eine Form von Literatursprache. Sprache ist karg, präzise, meine aber durch den spezifischen Sound, den sie nun einmal habe, immer viel mehr als sie auf Wortebene ausdrücke. „Ich muss den österreichischen Tonfall in die Sprache mitübertragen“, sagt Birnbacher. Das komme vielleicht als Lakonie herüber: „Das Österreichische ist ja immer so ein abdekoriertes Deutsches. Mir ist wichtig, dass Sprache keine Pirouetten dreht. Ich mag das nicht, wenn sich Sprache immer so aufpudelt.“

Durch Birnbachers Texte schimmert immer die Sprachanwendung des Kollektivs hindurch. Was bei Willam Faulkner als unbewusster Diskurs einer Allgemeintheit noch kursiv gesetzt wird, hebt sie nicht mehr extra hervor. Die Sprache der Einzelnen und der Diskurs aller zerrinnen ineinander. Nie erhebt sich die Erzählerin über die anderen, die ihr so fremd sind, obwohl sie sich dann auch geniert, wenn sie sich zum Selbstschutz bewusst außerhalb des Kontextes der Dorffunktionen setzt: „Die Frau vom Hochleitner macht wahrscheinlich jede Woche einen Blechkuchen, und ich hasse mich dafür, dass ich das lächerlich finde, weil ich selbst jetzt gerade auch einen Blechkuchen essen würde, wenn der Hochleitner einen dabeihätte.“

Das Leben auf dem Land, die Leerstellen und offenen Fragen
Wenig Fugen gibt es bei Birnbacher zwischen den Worten, aber zwischen den Romanteilen gehen Bedeutungswelten auf. So sind es die Leerstellen, die faszinieren – und auch das Unheimliche dieser scheinbaren Heimat ausmachen. Über Hofmark thront ein Berg, mehr noch aber die Burg, deren Besitzverhältnisse nie ganz geklärt sind und dadurch das Getuschel im Dorf vorantreiben. Am Land leben heißt nicht zuletzt, mit den ungeklärten Fragen zu existieren und sich an ihnen zu weiden. Das ist der Antrieb in der kargen Welt. Das macht dieses Buch so überdeutlich, ohne je mit dem Finger hinzuzeigen.

Birnbacher hat kein bitteres Buch geschrieben, auch kein versöhnliches. Es ist ein Buch der Wiedererkundung – und des Akzeptierens einer Wertekultur, die – wenn man sie als Rucksack für das eigene Leben mitnimmt – ein bisschen leichter zusammengepackt und -geschnürt werden darf. „Wovon wir leben“ klingt wie ein geläufiger Titel auf dem Buchmarkt, der ja voll von der Anspruchsfrage ist, was denn ein gelingendes Leben sei. Birnbacher gelingt mit diesem Werk ein unsentimentales Hinschauen. Vielleicht sind einem Sätze, die man in dem Buch liest, schon einmal begegnet. In der Zusammenstellung kommt aber ein stimmiges Bild zu der Frage heraus, wie man der Heimat wahrhaft entgegentritt – aber ihr nicht komplett unversöhnlich begegnet. Die Liebe zum Innergebirg bleibt, literarisch, eine seltsame Faszination, so als könnte das Glatteis eine Gänsehaut bekommen.
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
20513 DR.E, Bir

Leserbewertungen

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  • 3 Sterne Klare Worte, empathische Erzählung, genaue Beobachtungen in treffende Formulierungen verpackt. Unbedingt lesen!
    Bewertung abgegeben von Leser 41 am 26.02.2023