Der Himmel über Meran : Erzählungen

Zoderer, Joseph, 2005
Bücherei Zams
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Reservierungen 0Reservieren
Medienart Buch
ISBN 978-3-446-20667-0
Verfasser Zoderer, Joseph Wikipedia
Systematik DD - Anthologien, Erzählungen, Epen, Märchen, Gedichte
Schlagworte Anthologie, Scheitern, Erzählung
Verlag Hanser
Ort München
Jahr 2005
Umfang 138 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Joseph Zoderer
Annotation Ein Sohn verbringt die Nächte am Kopfende des Bettes seines sterbenden Vaters, und er folgt mit Blicken immer mehr der Pflegerin Laura. Eine Mutter schleicht nachts mit der Taschenlampe durchs Haus und weckt ihre Familienmitglieder mit einem Lichtstrahl ins Gesicht. Ein Liebespaar verlebt das Ende seiner Liebe am Meer, und als einzige Gemeinsamkeit ist Ihnen die Nähe ihrer Füße geblieben. Joseph Zoderer erzählt von Menschen, die mit dem Leben nicht zurechtkommen - in einer klaren, nüchternen und zugleich ungemein starken Sprache.

Quelle: Bücherschau (Büchereiservice des ÖGB)
"Ich hab einen Bock geschossen", hört der Vierjährige den Vater schreien. Dieser Satz wird ihm ein Leben lang im Kopf bleiben. Denn wie so viele (laut Zoderer fast neunzig Prozent der Betroffenen) war auch seinem Vater nicht klar gewesen, dass die Entscheidung, die die Verbündeten Hitler und Mussolini den Südtirolern abverlangte, nichts anderes war als ein schäbiger politischer Handel, in dem sowohl die italienischsprachigen als auch die deutschsprachigen Südtiroler von beiden Seiten verkauft, ihrer Wurzeln beraubt wurden. Der Vater optierte, wie so viele, für Deutschland und fuhr also an einem Wintermorgen 1940 von dem Meraner Nebenbahnhof in Untermais mit seiner Familie mit dem Zug "Heim ins Reich" nach Graz. Deshalb wurde ihm der Himmel über Graz zum Maß, den Himmel über Meran hatte er ja bis dahin noch nicht bewusst geschaut. Solcherart wird er aber auch stets sich als ein Heimatloser, Fremder, Nicht-dazu-Gehöriger wähnen (auch der Grazer Himmel wird ihm im letzten Kriegsjahr mit den Bombenangriffen genommen), jedoch: auch "das Zufällige, das Kleine, auch der Jakomini-Platz, waren für mich die Welt, und diese Welt ist mir geblieben als Abgrenzung von Fremdsein".

Im Nachdenken über die eigene Kindheit und Jugend fächert Joseph Zoderer in den sechs Erzählungen dieses Bandes behutsam einige für ihn bestimmende Bilder und Begebenheiten auf seine virtuos gezurrte Sprachleine. Er erzählt in diesen Erzählungen von den Zeiten des Krieges aus der Sicht eines Kindes, vom Altern der Mutter, dem Sterben des Vaters, von Begehren und Abschied, vom Arm- und Verzweifeltsein. Die Menschen, die sich aus den Erzählfiguren schälen, bleiben indes, obwohl oder trotzdem sie zum engsten Familienkreis zählen, mehr oder weniger fremd (der Erzähler übrigens sich selbst gegenüber ebenfalls).

Unter anderem fragt er sich auf seinen täglichen Wegen über die Terner Wiesen und Berge (in der Nähe von Meran, wo er schon lange wieder lebt), warum er "unter diesem geteilten Südtiroler Provinzhimmel herumlaufe und (sich) von Jahreszeit zu Jahreszeit quälen lasse von der Frage, wozu bist du hier, warum gerade hier?"

Auch mit diesem Buch meisterhafter Erzählungen erweist sich Joseph Zoderer wiederum als unbestechlicher, genauer, poetischer Chronist der Gegend, in die er hineingeboren wurde - und er wird sohin einer Art von Bestimmung souverän gerecht.

Georg Pichler

Quelle: Buch und Medien Südtirol, M. Patreider
Geschichte aus dem Leben präsentiert Josef Zoderer in seinem Erzählband. Da schleicht eine Mutter nächtens durch das Haus, mit einer Taschenlampe bewaffnet, die Blicke eines Sohnes folgen lieber der Pflegerin Laura als seinem strebenden Vater, ein Liebespaar blickt beim gemeinsamen Meerurlaub auf das zurück, was geblieben ist von der Liebe. Sprachlich genau zeichnet der Autor Ausschnitte aus dem Leben von Menschen wie Du und Ich und gibt gleichzeitig Einblicke in sein eigenes Leben, sein eigenes Erleben, besonders in der Erzählung, die dem Buch den Namen gegeben hat.

Quelle: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Johann Holzner
Joseph Zoderers neuer Erzählband, rechtzeitig zu seinem 70. Geburtstag am 25. November 2005 erschienen, enthält eine Reihe von Geschichten, die als Geschichten aus der Geschichte Südtirols gelesen werden könnten. - Blenden wir also einmal kurz zurück: Südtirol vor rund 35 Jahren, um 1970. Der "moralische Pakt" (Peter von Matt), den die junge Literatur aus Südtirol um diese Zeit ihrem Publikum unterbreitet, impliziert ein entschiedenes Nein zum Normenzusammenhang der alten Literatur wie auch ein entschiedenes Nein zu jenem politischen Diskurs, der jahrzehntelang, vor allem von Landeshauptmann Silvius Magnago und vom Verlagshaus Athesia gefördert, jedes Problem auf "die ethnische Schiene" (Alexander Langer) gelenkt hat. Sie gehörten also nicht dazu, die jungen Autoren; sei es, dass sie darunter litten, sei es, dass sie endlich sich frei bewegen wollten: sie alle, die 1970 in der Anthologie "Neue Literatur aus Südtirol" erstmals geschlossen an die Öffentlichkeit traten, waren im literarischen Leben ihres Landes nirgendwo verankert und sie stießen nirgends auf härtere Kritik als im Land selbst. Erst Jahre später erfuhren sie allmählich die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung, unter ihnen Norbert C. Kaser (1947-1978) und Gerhard Kofler (1949-2005). Vor allem aber Joseph Zoderer, der Älteste der Gruppe.

Zoderers Texte sind keineswegs nur Geschichten aus der Geschichte Südtirols, es sind Geschichten, die vom Alleinsein, vom Durst nach Zugehörigkeit, von der Suche nach Heimat reden. - Weil in diesen Texten sehr anschaulich erzählt, geradezu akribisch festgehalten wird, was der Erzähler sieht und sehen möchte, empfindet und empfinden möchte, weiß oder auch nicht ganz sicher weiß und doch gern wissen würde, weil diese Texte zudem über weite Strecken (auf den allerersten Blick) wie Passagen aus einer größer angelegten Autobiographie wirken, taucht die Geschichte Südtirols, von der Zeit der Option bis zur Gegenwart, oft und oft als Folie noch auf. Trotzdem, in diesen Texten wird alles andere als bloß subjektiv Erlebtes und Erfahrenes, in diesen Texten wird weit mehr verhandelt.

In diesen Texten ist nämlich aufgezeichnet, was für den Erzähler und für die Menschen in seiner Umgebung einmal die Welt gewesen ist, was ihnen verloren gegangen und was ihnen geblieben ist. In diesen Texten ist, manchmal wehmütig, manchmal nüchtern, nicht selten mit einer Gelassenheit, die ihresgleichen sucht, die Rede vom "Gehen über vertrautes Gelände, das plötzlich verhüllt worden ist ins Unvertraute". In diesen Texten ist schließlich nichts erfunden, in diesen Texten wird nichts erläutert, es gibt keine Klage und keine Anklage, keine Auflösung zwiespältiger Phänomene, kein Täuschungsmanöver; die Titelgeschichte des Bandes beginnt, symptomatisch lakonisch, mit dem Satz: "Den Himmel über Meran kenne ich nicht."

Mit Begriffen wie ‚Heim' und ‚Heimat' tut sich der Erzähler nicht nur deshalb schwer, weil er die "Heim ins Reich"-Parole noch im Ohr hat; von dieser Parole und ihren Folgen berichtet die Erzählung "Wir gingen" (die zum ersten Mal 1989 in einem von Reinhold Messner herausgegebenen Sammelband über "Die Option" und später noch einmal gesondert, in zwei Fassungen, deutsch und italienisch, 2004 in der Edition Raetia erschienen ist). Er tut sich damit auch ziemlich schwer, weil er nach wie vor das "Gekeife der Mussolini-Erben" auf der einen Seite und das "Dröhnen" der Südtiroler "Stammtischbrüder" auf der anderen Seite hört.

Weit wichtiger freilich ist, dass er das Fremdheitsgefühl längst schätzen gelernt hat, dass er es braucht.

Nicht zuletzt deshalb greift Zoderer zentrale Begriffe des politischen Diskurses in Südtirol, wie die Begriffe ‚bleiben' und ‚gehen' auf (vgl. dazu vor allem die grundlegende Studie von Brigitte Foppa: Schreiben über Bleiben oder Gehen. Die Option in der Südtiroler Literatur 1945-2000. Trento 2003 sowie den Aufsatz von Georg Gro 2000 te: Gehen oder Bleiben? - Die Identitätskrise der deutschsprachigen Südtiroler in Optanten- und Dableibergedichten der Optionszeit. In: Modern Austrian Literature Vol. 37, 2004, No.1/2, S.47-69). Er greift diese Schlüsselbegriffe auf, um sie zu drehen und zu wenden und somit aus den gewohnten Fesseln zu lösen:

Da hieß es nicht: Wenn du deutsch bleiben willst, ein Tiroler, mußt du gehen, und wenn du italienisch wählst, kannst du daheim bleiben.

Es hieß nicht: Die Heimat bewahren und deshalb für Italien wählen, auf dessen Staatsgebiet die Heimat nun gerade lag. Es hieß nicht: daheim bleiben in Italien oder die Heimat verraten, sie verlassen, und also fürs deutsche Großreich wählen.

Es hieß nicht, wie es hätte heißen sollen: Die Heimat behalten und deshalb italienisch optieren mit einem weißen Zettel, oder die Heimat verlassen, sie verraten und deutsch optieren mit einem orangenen Zettel.

Nein, es hieß: Deutsch bleiben oder Italiener werden.

Aber Zoderer gibt sich keineswegs damit zufrieden, die über den diversen Strategien der Verschleierung liegende Decke zu lüften. Aus der Erzählung, die wie eine autobiographische Skizze eröffnet wird, erhebt sich vielmehr ein Reflexionsterrain, in dem eine ganze Reihe von Themen aufgeworfen wird. Die Option bzw. die Grenze ist nur eines dieser Themen, das Fremdheitsgefühl ist ein zweites, ein drittes das Problem der Rekonstruktion bzw. Konstruktion in der Historiographie und in der Erzählung. - "Wir gingen" kann und sollte deshalb nicht nur im Zusammenhang der Südtiroler Literatur gesehen werden, sondern etwa auch im Kontext der Erzählung "Wunschloses Unglück" von Peter Handke.

In der schönsten Erzählung dieser neuen Sammlung, in der Erzählung "Die Nähe ihrer Füße", die nicht in Südtirol, sondern in einer mediterranen Landschaft, in einer "Stadt am Meer" spielt, steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, ein Liebespaar, das dabei ist, wie es scheint, sich für immer zu trennen. Der Erzähler allerdings weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Er bricht die Geschichte stattdessen ab, und zwar just an einem Punkt, an dem sie ganz neu beginnen könnte.

Sie beugte sich zu ihm, nannte einige Male seinen Namen, es war das Trauergebet für alles, er blieb sitzen, während sie auf die Straße hinaustrat. Er sah, wie sie die Fahrbahn überquerte, kaum ein Auto kam in seinen Blick, er schaute durch das Heckfenster, während das Taxi wieder anrollte, der Schal hing mit einem langen Ende von ihrer rechten Schulter, sie hatte einen stolzen, ruhigen Schritt, die Schalschleife fiel ihr bis über die Hüfte, eine Handbreit oberhalb des Knies endete auch ihr Minirock.

So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss: Der Erzähler sagt nicht, er will nicht sagen... mehr noch, er weiß nicht, er will nicht wissen, wie die Geschichte ausgeht. Oszillation ist ein Signum der Poetizität.

So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss - und doch zu einem guten Ausgang:

Fast so wie die Geschichte, die vor 35 Jahren begonnen hat, mit der bescheidenen Anthologie "Neue Literatur aus Südtirol": Die höchste Auszeichnung, die das Land Südtirol einem Schriftsteller verleihen kann, der "Walther-von-der-Vogelweide-Preis", wurde 2005 Joseph Zoderer zuerkannt.

Quelle: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Verena Zankl
"Deutsch bleiben oder Italiener werden" wurden die Südtiroler am 1. September 1939 gefragt, an dem Tag, an dem Hitlers Truppen in Polen einmarschiert waren. Es wurde nicht gefragt, ob man abwandern möchte oder bleiben, es wurde nicht gesagt, wenn du deutsch bleibst, musst du dein Heimatland verlassen, und wenn du Italiener wirst, kannst du bleiben, verlierst aber deine Sprache.

"Deutsch bleiben oder Italiener werden. […] Diese Frage, diese Wahl war schon das Fremdsein."

Und so zeigten 90 % der Südtiroler Hitler und Mussolini, die sich diese unmenschliche Frage und propagandistische Meisterleistung zwischen Berlin und Rom ausgeschnapst hatten, dass sie keine Italiener werden, dass sie Deutsche bleiben möchten. Weil ja Sprache nicht nur ein Stück Identität bedeutet, sondern die Grenzen der Sprache bekanntlich die Grenzen der Welt sind und die Größe der Welt offenbar eine Rolle spielt. Die wenigsten entschieden sich für das Land und nicht für ihre Sprache.

Joseph Zoderer, der heuer bekanntlich seinen 70. Geburtstag feiert, zeigt uns erneut, was es bedeutet, mit dieser Wahl, mit dieser Geschichte konfrontiert worden zu sein, und wie diese Wahl das Leben aller Südtiroler in andere Bahnen gelenkt hat.

Der Himmel über Meran, das zu Zoderers Geburtstag am 25. November 2005 erschienen ist, ist nur scheinbar ein schmales Büchlein, vielmehr verbirgt sich in den sechs Erzählungen ein wichtiger Teil der Geschichte Südtirols und das Schicksal seiner Menschen und behandelt dabei noch nebenbei die großen Themen der Weltliteratur: Verlust, Verrat, Liebe und Tod.

Wir gingen, die erste und zugleich zentrale Erzählung des Bandes - der Autor hat sie bereits im Jahre 2004 auf deutsch und italienisch bei Raetia erscheinen lassen -, schildert die Geschichte einer Familie, die die Geschichte sehr vieler Südtiroler Familien sein könnte. Das Schicksal einer Familie, die sich entschlossen hat, deutsch zu bleiben und das Land zu verlassen. Die vierköpfige Familie, der wie allen Südtirolern versprochen worden ist, dass sie ihre ursprünglichen Besitztümer eins zu eins im Deutschen Reich ersetzt bekommen würden, landet in Graz, nachdem sie befürchtet hatte, in das soeben von Hitler besetzte Polen zu kommen. Doch schon am ersten Tag gesteht der Vater - "ehemalige[r] Hotelhausmeister, also Hotelschuhputzer, und später dann entlassene[r] Hilfskurgärtner" -, dass dies die falsche Wahl gewesen ist, die "ihm ‚passiert' war, in die er mit uns ‚hineingerannt' war". Und das einzige, an das sich der damals vierjährige Sohn erinnert, aus dessen Augen die Geschichte erzählt wird, sind die Worte, als dies dem Vater gewahr wird: "Ich habe einen Bock geschossen!"

Dass Zoderer einen vierjährigen Jungen - fast 70 Jahre später - diese Geschichte nachzeichnen lässt, bei der er zwar dabei gewesen ist, an die er sich selbst aber kaum mehr erinnern kann, ist meines Erachtens das Besondere an dieser Erzählung. Nur mehr Fetzen sind übrig, die ihm sein um zehn Jahre älterer Bruder erzählt - der Kleine wird ihn ein Leben lang mit Fragen über seine Vergangenheit belästigen -, und Fakten, die er sich aus Geschichtsbüchern holt. Und so kann der Junge sich aus einer Distanz und emotionsfrei dieses Themas annehmen. Er kann sich nicht mehr an die Ausgrenzung erinnern, die der Familie in der "Ostmark" passiert ist, nicht an die Schimpfworte "Katzelmacher" oder "Spaghettifresser", die ihnen die steirischen Patrioten zugerufen haben, weil sie nicht nur deutsche Erde den Italienern überlassen, sondern auch ihnen selbst steirische Erde, Arbeitsplätze und Wohnungen weggenommen hatten. Er kann mit kritischer Haltung erzählen, obwohl er mittendrin gewesen ist.

Die weiteren fünf Erzählungen werden im Geiste dieser Wahl, der so genannten "Option", gelesen, auch wenn sie nicht direkt davon handeln. Die Füße aber, die diese Wahl versinnbildlichen sollen - Wir gingen -, ziehen sich als Motiv wie ein grün-weiß-rot-weiß-roter Faden durch das Erzählkonstrukt. Während in der ersten Erzählung der Bruder in seinen Lacklederschuhen, "die er immer an den Füßen der eleganten Kurgäste bewundert hatte", am Abschiebebahnhof Meran-Obermais friert, werden die Füße in der zweiten Erzählung Der Tod des Vaters zum Überbringer der Nachricht seines Ablebens. Die Füße, die der Sohn während der letzten Tage im Krankenhaus warm knetet, zeigen durch ihre plötzliche Kälte den Tod des Vaters an, während der Sohn sich nach der Wärme einer italienischen Krankenschwester sehnt, in die er sich während seines Aufenthalts verliebt.

Die Erzählung Die Nähe der Füße ist meines Erachtens die schönste Erzählung des Bandes, weil sich hier 2000 die von Zoderer viel beschworene Fremdheit am gelungensten manifestiert. Ein junger Mann kehrt nach eineinhalb Jahren zu seiner großen Liebe in eine Stadt am Meer zurück. Das Fremdsein wird hier ganz unverhüllt offenkundig: Der junge Mann hat sein Leben in Form seiner Liebe in einer für ihn gänzlich fremden Stadt gefunden. Sie aber will ihn nicht mehr, weil er zu lange fort gewesen ist, um hier wieder zuhause sein zu können. Eine Metapher für jene Südtiroler, die nach 1945 wieder in ihre "Heimat" zurückgekehrt sind. Die Nähe der Füße ist die einzige Nähe, die dem einstigen Liebespaar geblieben ist, Fuß an Fuß in zwei zueinander stehenden Betten.

Die letzte Erzählung Der Himmel über Meran, die dem Band seinen Namen gibt und den Faden der ersten Erzählung thematisch wieder aufnimmt, ist die Hommage des Dichters an seine Heimatstadt, die er als Vierjähriger verlassen musste, um nach 1945 wieder dorthin zurückzukehren. Wobei die Liebe zur Heimatstadt hier allerdings ein wenig zu pathetisch daherkommt, obwohl mit einer bewusst geschafften Distanz.

Der Himmel, der das einzig Beständige ist, bildet den glatten Gegenpol zu den Füßen, die Mobilität und Veränderung symbolisieren: "[…] ich gehe vor mich hin, als ob der Himmel eigentlich unter meinen Füßen wäre, ich zertrete ihn, als ob er meine Zeit wäre."

Die beiden mittleren Erzählungen - drei und vier - fallen gänzlich aus dem Rahmen, den die erste und die letzte Erzählung bilden. Es gibt keine Füße und auch sonst keine Verbindung zu den beiden Erzählungen davor und danach. Die Mutter aus dem Haus der Mutter soll wohl gemeinsam mit dem Vater aus der vorangehenden Erzählung die beiden Möglichkeiten der Option unterstreichen: Muttersprache vs. Vaterland. Was die drogensüchtige Monika in diesem Erzählband zu suchen hat, bleibt den Leserinnen und Lesern verborgen.

Sprachlich zeigt sich Zoderer wieder einmal von seiner besten Seite, wie es uns auch der Klappentext verspricht. Seine Fähigkeit, in präzis formulierten und eigentlich sehr einfachen Sätzen seine Ansprüche zu transportieren, kommt hier ganz besonders zum Tragen. Fremdheit, Fremdsein und Fremdbleiben wird wieder anhand von Persönlichem veranschaulicht: "Ich mag dieses Dorf […], es beläßt mir die Distanz, ich könnte auch sagen - das Fremdheitsgefühl, das ich brauche, um es ‚daheim' auszuhalten."

Und endlich hat uns Zoderer ein optimistisches Buch zu seinem Geburtstag geschenkt. Während man nach dem Glück beim Händewaschen, Der Walschen oder Dem Schmerz der Entwöhnung deprimiert zurückgelassen wird, schlägt man Den Himmel über Meran mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen zu.

Quelle: SCHRIFT/zeichen, Johann Holzner
Sie gehörten nicht dazu; sei es, dass sie darunter litten, sei es, dass sie endlich sich frei bewegen wollten: die jungen Autoren, die 1970 in der Anthologie "Neue Literatur aus Südtirol" erstmals geschlossen an die Öffentlichkeit traten, waren im literarischen Leben ihres Landes nirgendwo verankert und sie stießen nirgends auf härtere Kritik als im Land selbst. Erst Jahre später erfuhren sie allmählich die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung, unter ihnen Norbert C. Kaser (1947-1978) und Gerhard Kofler (1949-2005). Vor allem aber Joseph Zoderer, der Älteste der Gruppe.

Zoderers neuer Erzählband, rechtzeitig zu seinem 70. Geburtstag am 25. November 2005 erschienen, enthält eine Reihe von Geschichten, die als Geschichten aus der Geschichte Südtirols gelesen werden könnten. Texte, die vom Alleinsein, vom Durst nach Zugehörigkeit, von der Suche nach Heimat reden. - Weil in diesen Texten sehr anschaulich erzählt, geradezu akribisch festgehalten wird, was der Erzähler sieht und sehen möchte, empfindet und empfinden möchte, weiß oder auch nicht ganz sicher weiß und doch gern wissen würde, weil diese Texte zudem über weite Strecken wie Passagen aus einer größer angelegten Autobiographie wirken, ist die Geschichte Südtirols, von der Zeit der Option bis zur Gegenwart, hier denn auch fast permanent als Folie präsent. Trotzdem, in diesen Texten wird keineswegs bloß subjektiv Erlebtes und Erfahrenes, in diesen Texten wird weit mehr verhandelt.

In diesen Texten ist nämlich aufgezeichnet, was für den Erzähler und für die Menschen in seiner Umgebung einmal die Welt gewesen ist, was ihnen verloren gegangen und was ihnen geblieben ist. In diesen Texten ist, manchmal wehmütig, manchmal nüchtern, nicht selten mit einer Gelassenheit, die ihresgleichen sucht, die Rede vom "Gehen über vertrautes Gelände, das plötzlich verhüllt worden ist ins Unvertraute". In diesen Texten ist schließlich nichts erfunden, in diesen Texten wird nichts erläutert, es gibt keine Klage und keine Anklage, keine Auflösung zwiespältiger Phänomene, kein Täuschungsmanöver; die Titelgeschichte des Bandes beginnt, symptomatisch lakonisch, mit dem Satz: "Den Himmel über Meran kenne ich nicht."

Mit Begriffen wie ‚Heim' und ‚Heimat' tut sich der Erzähler nicht nur deshalb schwer, weil er die "Heim ins Reich"-Parole noch im Ohr hat; von dieser Parole und ihren Folgen berichtet die Erzählung "Wir gingen" (die gesondert, in zwei Fassungen, deutsch und italienisch, bereits 2004 in der Edition Raetia erschienen ist). Er tut sich damit auch ziemlich schwer, weil er nach wie vor das "Gekeife der Mussolini-Erben" auf der einen Seite und das "Dröhnen" der Südtiroler "Stammtischbrüder" auf der anderen Seite hört.

Weit wichtiger freilich ist, dass er das Fremdheitsgefühl längst schätzen gelernt hat, dass er es braucht.

In der schönsten Erzählung dieser Sammlung, in der Erzählung "Die Nähe ihrer Füße", die nicht in Südtirol, sondern in einer mediterranen Landschaft, in einer "Stadt am Meer" spielt, steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, ein Liebespaar, das dabei ist, wie es scheint, sich für immer zu trennen. Der Erzähler allerdings weigert sich, das Ende der Geschichte zu erzählen. Er bricht die Geschichte stattdessen ab, und zwar just an einem Punkt, an dem sie ganz neu beginnen könnte. "Sie beugte sich zu ihm, nannte einige Male seinen Namen, es war das Trauergebet für alles, er blieb sitzen, während sie auf die Straße hinaustrat. Er sah, wie sie die Fahrbahn überquerte, kaum ein Auto kam in seinen Blick, er schaute durch das Heckfenster, während das Taxi wieder anrollte, der Schal hing mit einem langen Ende von ihrer rechten Schulter, sie hatte einen stolzen, ruhigen Schritt, die Schalschleife fiel ihr bis über die Hüfte, eine Handbreit oberhalb des Knies endete auch ihr Minirock." So kommt also diese Geschichte zu keinem Abschluss - und doch zu einem guten Ausgang.

Fast so wie die Geschichte, die vor 35 Jahren begonnen hat, mit der bescheidenen Anthologie "Neue Literatur aus Südtirol": Die höchste Auszeichnung, die das Land Südtirol einem Schriftsteller verleihen kann, der "Walther-von-der-Vogelweide-Preis", wurde 2005 Joseph Zoderer zuerkannt.



Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
19353 DD, Zod

Leserbewertungen

Es liegen noch keine Bewertungen vor. Seien Sie der Erste, der eine Bewertung abgibt.
Eine Bewertung zu diesem Titel abgeben