Geistergeschichte : Roman

Freudenthaler, Laura, 2019
3 Sterne
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-99059-025-6
Verfasser Freudenthaler, Laura Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Fiktionale Darstellung, Erzählende Literatur, Lebenskrise, Affäre, Ehekrise, Eheprobleme, Freijahr, Gewohnheiten, Klavierspiel, Leerstellen
Verlag Literaturverlag Droschl
Ort Graz
Jahr 2019
Umfang 168 Seiten
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Laura Freudenthaler
Annotation In ihrem Freijahr kommt Anne ins Straucheln. Statt sich dem eigenen Klavierspiel zu widmen und an einem Lehrbuch zu schreiben, lösen sich ihre üblichen Gewohnheiten nach und nach auf. In den Nächten hält sie ihre Beobachtungen in
einem Notizheft fest und untertags streift sie durch die Stadt. Diese Wanderungen führen sie bald über das ihr Bekannte hinaus.
Seit zwanzig Jahren lebt Anne mit Thomas in der gemeinsamen Wohnung. Das Paar teilt viele Erinnerungen und weiß die Zeichen des anderen zu lesen. Sie fühlt sich in der Wohnung zunehmend unwohl, und Thomas wird immer abwesender.
Schon länger vermutet sie, dass er eine Affäre hat. Nun taucht das Mädchen, wie Anne die Unbekannte nennt, als huschender, wispernder Geist auf. Geräusche und Erscheinungen sind nicht mehr eindeutig zuordenbar.
Laura Freudenthaler knüpft mit Geistergeschichte an ihren vielbeachteten Debütroman "Die Königin schweigt" an. Ihr gelingt das Kunststück der Gegenwärtigkeit. Man wird regelrecht in Annes Wahrnehmung hinüberverführt. Immer tiefer folgen wir ihr in eine Welt der Spiegelungen und doppelten Böden, in der Wirklichkeit und Vorstellung ineinanderfließen.


Quelle: Literatur und Kritik, Helmut Gollner
Leben mit Geistern

Zu Laura Freudenthalers Roman Geistergeschichte

Laura Freudenthaler gehört nach ihren ersten drei Büchern (Der Schädel von Madeleine, Die Köni­gin schweigt, Geistergeschichte) bereits zu den besten Erzählerinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Ihr neuer Roman eine ungeheuer sensible, zugleich scharfsichtige und dezente Befassung mit einer Frau (Anne), die die Fähigkeit für die konventionelle Wirklichkeit langsam verliert, andererseits an imaginativer Wirklichkeit gewinnt; äußerlich die Geschichte einer ehelichen Entfremdung. Realität ist eine Funktion von Bewusstsein. Annes Realität besteht zunehmend aus Vorstellungen, die Freudenthaler aber mit so detailliertem Realismus ausstattet, dass sie ihnen den vollgültigen Realitätsstatus verleiht, der ihnen zusteht. Die Autorin gibt keine Überlegenheit über ihre Protagonistin vor und bietet dem Leser nicht einmal ein Verstehen der Figur an. Sie bleibt bei der Wahrnehmung; keine Seelenschlüpferei; auch dort nicht, wo sie Annes Einbildungen referiert. Keine Behelligung durch Psychologie oder andere Blicke hinter die Erscheinungen.

Anne ist Französin, hat den Wiener Thomas geheiratet und ist nach Österreich übersiedelt. Hier unterrichtet sie Klavier an einer Musik­schule. Jetzt hat sie ein Freijahr, um ein Lehrbuch zu schreiben.

Aber sie schreibt nicht. Erstens führt die neue Freiheit – vornehmlich und ziellos in Kaffeehäusern und auf Stadtwanderungen verbracht – schnell zu Bewusstseinsdestabilisierung und im Weiteren zu Desintegration, Selbstentfremdung und Realitätsverlust. Und zweitens ist Anne zunehmend beschäftigt mit einem vermuteten und langsam zur Gewissheit gewordenen Seitensprung von Thomas. Sie kontrolliert aus seinen Mantel­taschen seine Belege von Lokalbesuchen und Einkäufen und komponiert daraus eine detaillierte Beziehungsgeschichte zwischen Thomas und »dem Mädchen«. Die Vorstellungen werden so konkret und dominant, dass »das Mädchen« als Gespenst und leibhaftig im Leben Annes auftaucht. Anne zieht das Mädchen an sich, »komm doch«. Das Mädchen interessiert sich für Annes Kleidung im Schrank, »Anne spürt das Mädchen unter ihrem linken Arm. Öffnen, wispert es, öffnen. Mein Mädchen, man öffnet keine Schränke in Nächten wie diesen. […] Anne will den Haaransatz des Mädchens mit den Lippen streifen, nur streifen, ob dein Flaum zarter ist als meiner. […] Wieso sucht man diese Berührungen, dass es einen beutelt, sag mir, mein Mädchen.«

Wieso? Anne zweigt das Mädchen von Thomas für sich ab. Stellt Intimität her, indem sie es bis ins Fleischliche imaginiert. Es ist eine Inbesitznahme: »mein Mädchen«, eine Aneignung, in der Thomas keine Rolle mehr spielt. Wieso? Weder Anne noch ihre Autorin hat eine Antwort, Antworten vereinfachen das Erfragte. Eifersucht, Rache an Thomas (Wegnahme des Mädchens) oder gar Anflüge von Homosexualität wären zu banal, wirken doch Annes Sehnsüchte (»Berührungen, dass es einen beutelt«) »unfassbar« vielschichtig und genuin. Die Autorin gibt für einen Moment ihre auktoriale Erzählposition auf und ermöglicht den direkten Kontakt Anne – Mädchen (»dein Flaum«, »sag mir, mein Mädchen«).

Freudenthaler tritt nicht an, Antworten zu geben, die Erscheinungen selbst sind unantastbar/unauflösbar. Anne ist als Rätsel viel wahrer denn als gelöster Fall, nichts wird zunichtegequatscht oder begrifflich ausgeblutet. – Freudenthalers Sätze sind entsprechend kurz, sachlich, gerne Hauptsätze, sparsam in der kommunikationsüblichen Verbindlichkeit, verzichten auf den sprachlichen Erklärungsapparat von Begründungs- und Folgesätzen. Das letzte Kapitel des Buches ist dann eine geradezu provokante Verweigerung von Ergebnissen oder gar Lösungen: eine Erinnerungsidylle mit Thomas in ihrem Haus am See; kein Wort zu den anstehenden Problemen oder den aufgetauchten Gespenstern. Das Kapitel stellt weder seine Idyllik in Frage noch schert es sich um den Fortgang der Geschichte.

Anne verliert sich selbst, aber nur in dem Maße, in dem sie die konventionelle Realität verliert. Im Kaffeehaus veräußert sie sich in absichtsfreie Beobachtung ihrer Umgebung; bei offenen Augen ist sie desinteressiert am Gesehenen. Tätigsein hat sie eingestellt und damit die Teilnahme an der Welt. Unterwegs verliert sie oft die ­Orientierung oder gibt sie von sich aus auf. Der Verlust der Selbstverständlichkeiten betrifft auch den eigenen Körper: Die Hände verweigern das Klavierspiel, »kennen sich nicht mehr aus […], fassen einander vor Annes Bauch«, nehmen ihr keine Entscheidung mehr ab. Die Hände werden fremd, zu Dingen außerhalb von Annes Verfügungsgewalt; »soeben ist sie den Händen auf die Schliche gekommen. Wahrscheinlich kennen sie auch die Noten noch und weigern sich bloß, sie zu spielen.« – Auch die Beine verselbständigen sich, »die Straße flieht und Anne folgt«, ihre Wanderungen sind Zwangshandlungen.

Bedingungslose Einfühlung bei konsequenter Distanz: das ergibt die wunderschöne Zartheit des Romans und seine literarische Qualität.
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
17207 DR.E, Fre

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