Herzmilch : Roman

Klemm, Gertraud, 2014
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-85420-848-8
Verfasser Klemm, Gertraud Wikipedia
Systematik DR.E - Romane, erzählende Gegenwartsliteratur
Schlagworte Belletristische Darstellung, Beziehungen, Fiktionale Darstellung, Erzählende Literatur, Emanzipation, Kinder, Geschlechterrollen, Frauenbiografie, weibliche Biographie
Verlag Literaturverl. Droschl
Ort Graz
Jahr 2014
Umfang 237 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Gertraud Klemm
Annotation Angaben aus der Verlagsmeldung



Herzmilch : Roman / von Gertraud Klemm


In einem großen Haus voller Kinder wächst ein Mädchen auf wie alle anderen; statt für Puppen interessiert sie sich für Wasserkäfer, und dass im Fernsehen immer nur Männer kochen, irritiert sie. Sie wird allmählich erwachsen Diätwahn, sexuelle Eskapaden, Zorn, Sehnsucht, Orientierungslosigkeit und Selbstzweifel inbegriffen. Sie lässt sich treiben, von Schule zu Uni zu Arbeitsplatz, von Beziehung zu Beziehung immer auf der Suche nach ihrer Bestimmung »als Frau«, hinter der sie dumpf die Mutterschaft vermutet (und befürchtet): Alle Welt scheint nichts anderes im Kopf zu haben als sich fortzupflanzen. Aber so viel Unentschlossenheit geht nicht allzu lange gut.
Gertraud Klemms Debüt bei Droschl ist ein vor Lebendigkeit sprudelnder Roman mit wachem, klarem Blick auf alte und neue Geschlechterrollen. Sein Witz und sein Humor übertönen aber nie den Ernst der Lage nämlich die Trägheit der Verhältnisse, den Druck der inneren Zwänge und Neurosen und die Aussichtslosigkeit, wenn alles anders läuft als geplant
Mit Herzmilch ist Gertraud Klemm ein Romanerstling gelungen, der ein altes und immer gleich heißes Eisen originell, schonungslos und temperamentvoll anpackt und neu formuliert.


Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Barbara Rieder
Über die "Ungeheuerlichkeit" eine Frau zu sein. Was tun, wenn der Weg vorgezeichnet ist - sich fügen oder Widerstand leisten? (DR)

In ihrem Romanerstling beschreibt Gertraud Klemm, wie es ist, ein Mädchen, eine Tochter, eine Schülerin, eine Pubertierende, eine Studentin, eine Geliebte, eine Mutter zu sein. Am Anfang der Geschichte stehen die Wahrnehmungen und Erinnerungen eines Kindes. Eines Mädchens, das früh feststellt, dass Emanzen hässlich sind, Fernsehköche männlich, die eigene Mutter gelegentlich hysterisch, die Tanten zu dick. Dass Frauen nur wenig Zeit zum "Blühen" geschenkt ist, ist dem Mädchen bereits früh klar. Das Leben der erwachsenen Frauen erscheint dem Kind als Sackgasse. Ein Bild, das sich mit zunehmendem Alter verstärkt. Frau-Sein kann kein erstrebenswertes Ziel sein, wo Frauen doch von Anfang an praktisch alles verwehrt ist und die Bestimmung vorgezeichnet scheint. Brav sein, Mutter werden - nicht zu viel träumen, nicht zu viel wollen.

Das Mädchen in Klemms Roman wird älter, die Ansichten werden radikaler, die Sprache derber. Das Mädchen hat die ersten Freunde, zieht zum Studium in die Stadt, immer ängstlich darauf bedacht, sich genug Freiheit zu bewahren. Mit der wachsenden Unentschlossenheit der Heldin wird der Ton der Erzählerin abermals rauer. Zornig und bitter beschreibt Klemm das Schicksal der nunmehr erwachsenen Frau, das unmerkliche Hineingleiten in das vorherbestimmte Leben als Muttertier.

Die Autorin schlägt mit ihrem Erzählton den Bogen vom Kindesalter zum Muttersein. Gertraud Klemm verwendet die Wörter, wie sie ihr in den Sinn kommen, kombiniert unbefangen scheinbar Unpassendes in Sätzen. Dabei entstehen unglaublich melodiöse und ausdrucksstarke Satzkreationen, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Ein ehrliches, radikales, zorniges Buch über unbequeme Wahrheiten. Sprachlich und thematisch hat dieser Erstling einen Stockerlplatz verdient. Bemerkenswert - lesenswert!


Quelle: Literatur und Kritik, Harald Klauhs
Die Milch der feministischen Denkart

Gertraud Klemms Roman "Herzmilch"

Ein Pfahl steckt quer durch unser ganzes Leben und die Herzmilch spritzt in Fontänen heraus." Mit diesem Satz endet das 37. Kapitel von Gertraud Klemms Debütroman "Herzmilch". Er ist quasi der titelgebende Satz, auch wenn das Wort in den verbleibenden drei Kapiteln noch ein paar Mal vorkommt. Dass die Verlagsvertreter von diesem Wort elektrisiert wurden, verwundert nicht, klingt es doch ganz ähnlich wie das Kompositum "Herbstmilch". So nannte sich die Autobiografie der Bäuerin Anna Wimschneider aus dem Jahr 1985, die über drei Jahre lang in den Best­sellerlisten zu finden war und von Joseph Vilsmaier verfilmt wurde. Die Assoziation an den Titel des Millionensellers zu wecken ist zugegebenermaßen verlockend. Ob sie den Erfolg des Romans von Gertraud Klemm befördert, muss indes bezweifelt werden.

Denn Anna Wimschneiders in einfacher Erzählsprache verfasster Lebensbericht ist authentisch. Ein Asset in der Publikumsgunst. Literarisch im engeren Sinn ist die Autobiografie "Herbstmilch" jedoch nicht. Genau umgekehrt verhält es sich mit "Herzmilch". Diese Memoiren einer im (klein)städtischen Milieu aufgewachsenen Frau wollen zuallererst Literatur sein. Schon auf den ersten Seiten deklamieren die (manchmal gesuchten, manchmal gewagten) Metaphern den Kunstwillen: "Ich wachse auf im Gelbton der Siebzigerjahre." "Die Arbeit der Eltern scheitelt den Tag in zwei Stränge." "Kindsein ist wie eine Presswurst, ohne Leerstellen und Hohlräume, verdichtet bis zum Platzen." Im Gegensatz zu Anna Wimschneider, die in schlichten Worten auf ein beschwerliches, aber erfülltes Leben zurückblickt, ist "Herzmilch" eine einzige lange Anklage: "Wir (gemeint sind die Frauen, Anm.) müssten einen Knochen im Herzen haben, damit das Mitleid mit den Kindern und den Alten uns nicht mehr die Milch aus dem Herzen pressen kann." Man muss gar nicht kleinlich physiologisch an diesem Satz rummäkeln, um zu erkennen, dass er anorganisch ist.

Nun passt diese sprachliche Angestrengtheit aber so gar nicht zu der "natürlich", also bieder chronologisch erzählten Autobiografie einer namenlosen Ich-Erzählerin. Die berichtet von den Nöten eines Mädchens aus gutem Haus, das zur Frau heranwächst und ungewollt Mutter wird, und das mit dieser von ihm als aufgedrängt empfundenen Bestimmung nicht zurechtkommt. Schon als kleines Mädchen ist das Schämen das vertrauteste Gefühl der Erzählerin, es "wohnt ganz tief in meinem Bauch", und wenn sie auf dem Rücken liegt und nachdenkt, anstatt schnell aufzustehen, wird sie "steif vor Angst, dass das Schämen nie weniger wird, sondern immer mehr". In der Psychologie nennt man das seit Robert K. Merton Self-fulfilling Prophecy. Ebendiese exerziert die Autorin in der Folge Schritt vor Schritt vor. Unklar ist nur, ob die ­Autorin Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein quasi ein spezifisch weibliches Langkapitel anfügen oder ob sie Mitleid mit ihrer Protagonistin erregen will.

Gertraud Klemms Buch zielt darauf ab, die Leserin über ihr Frausein im Allgemeinen und ihre Bestimmung zur Mutter im Besonderen reflektieren zu lassen. Die Problematisierung der potenziellen Mütterlichkeit aller Frauen kann man als gesellschaftskritischen feministischen Ansatz betrachten. Nur müsste der auch formal umgesetzt werden. Genau das geschieht hier aber nicht. Die lineare, bruchlose Erzählweise verhindert geradezu eine Reflexion. Die Ich-Erzählerin schildert ihr Leben, als wäre die Erinnerung ein Tonband, das man nur abzuspielen braucht. Vergleicht man zudem die Biografie Gertraud Klemms mit jener ihrer Protagonistin, so findet man eine Menge Übereinstimmungen: aufgewachsen in den Siebzigerjahren in einer österreichischen Kleinstadt, Übersiedlung nach Wien, Studium der Biologie, Tätigkeit für eine Gebietskörperschaft, Geburt eines Kindes… An keiner Stelle distanziert sich die Autorin von ihrer Protagonistin, nirgends wird sie ironisiert oder kommentiert. Der weitgehende Gleichklang der Biografien macht es für Leserinnen - und für solche ist das Buch offensichtlich geschrieben - schwer, zwischen Autorin und Erzählerin zu unterscheiden. Im Grunde kann die Leserin sich beinahe dazu aufgefordert fühlen, diese romanhafte Bi 2000 ografie als Passionsgeschichte der Autorin zu lesen.

Diese identifikatorische Konstruk­tion kann man in gewisser Weise auch als Versuch werten, das Buch vor Kritikern zu immunisieren, weil jede Kritik am Roman automatisch zur Kritik an der Person der Autorin wird. Dabei wäre es die ästhetische Herausforderung gewesen, die Brüche kenntlich zu machen. Denn zwischen der Autorin und der Erzählerin steht der künstlerische Prozess, wie unter anderem Ilma Rakusa in ihren Poetikvorlesungen mit dem Titel Autobiografisches Schreiben als Bildungs­roman ausführt. Sowohl in Rakusas Erinnerungspassagen Mehr Meer als auch in Gisela von Wysockis Wir machen Musik (so nennt die Autorin ihre "Geschichte einer Emanzipation"), geht es darum, wie sie zu d­er Person geworden sind, die sie sind. Beiden ist klar, dass es dabei um eine Inszenierung geht, bei der das Ich eine Figur ist. Beim Schreibprozess handelt es sich um "die Verwandlung von persönlicher Erfahrung in einen Diskurs, der das Nur-Subjektive aufhebt". Die Nobelpreisträgerin Herta Müller etwa nennt ihre autobiografischen Texte "autofiktional". Damit drückt sie die Unfähigkeit aus, Erinnerung und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen. Sie verweist stets auf den "Konstruktionscharakter des Erzählten" und verzichtet zum Beispiel auf eine chronologische Abfolge der Ereignisse. Das ist eine mögliche Form, auf die Diskrepanz zwischen der Kunstfigur, wie sie sich im Text repräsentiert, und jenem Ich, das sie erinnernd erschafft, aufmerksam zu machen. Eine andere mögliche Form hat Margit Schreiner in ihrem Roman Haus, Frauen, Sex gewählt. Sie denunziert männliches Denken, indem sie mittels Rollenprosa aus der Perspektive eines Mannes erzählt. In allen diesen Fällen ist die Differenz zwischen der Autorin und der Ich-Erzählerin deutlich gemacht.

Nun ist ein Roman zuallererst ein Sprachkunstwerk und kein männliches oder weibliches Gebilde. Über weibliche Sprache ist schon viel nachgedacht und geschrieben worden. Wie an den eingangs zitierten Sätzen bereits erkennbar, sucht Gertraud Klemm aber gar nicht nach einer weiblichen Sprache für ihren Stoff, sondern verwendet eine Kunstsprache. Im Gegensatz zur Einheit der Zeit, die sie in diesem Buch penibel einhält, ist ihre Sprache jedoch völlig uneinheitlich. Zum einen benutzt sie eine blumige Sprache, die mehr an Hedwig Courths-Mahler denn an Anna Wimschneider denken lässt. Die Fülle an wolkigen Metaphern nimmt der feministischen Anklageschrift jegliche Authentizität. Zum anderen nimmt sie stilistische Anleihen bei Marlene Streeruwitz: "Ich habe mich nicht vorbereitet. Auf dieses Gespräch. Auf diese Situation. Auf die ernstzunehmende Alternative." Oder interpunktionslos alliterierend: "Bauch Busen Baby." Beim Thema Sexualität wird die Erzählerin plötzlich prüde und verwendet so unsinnliche Wörter wie Ejakulat oder berichtet fast keusch davon, dass sie sich im Auto "paaren". Nur bei jenem Mann, der sie zwar liebt, der auf sie aber die Attraktion eines altdeutschen Tisches ausübt, fällt ihr "Stylen gegen Ficken" ein.

Dazu kommt, dass in vielen Passagen erläutert statt erzählt, mehr behauptet als literarisch gestaltet wird. So beklagt die Erzählerin etwa machistische Phrasen. Doch anstatt die Sprüche wiederzugeben, die Männer ihr nachrufen, berichtet sie abstrakt davon, dass "Kommentare fallen wie faule Äpfel, zerplatzen auf der Brust, auf dem Kopf, auf dem Po". Wenn sie erzählen will, wie Frauen dahin trainiert werden, auf ihre Figur zu achten, berichtet sie vom bürgerlichen Mittagstisch ihrer Kindheit Folgendes: "Da werden wir andere Dinge essen als die Männer. Mein Bruder und der Vater werden Liebe auf den Teller bekommen, meine Mutter und ich ein schlankes Essen." Abgesehen von der Frage, ob Liebe satt macht, kann man auch "schlankes Essen" liebevoll zubereiten. Außerdem nimmt das geküns­telte Futur der Figur vollends jegliche Stringenz.

Unter Umständen kann man sich's im Leben einfach machen; in der Kunst geht das nicht. So schließt man das Buch mit dem Gefühl, eine weibliche Passionsgeschichte erzählt bekommen zu haben, ohne zu wissen, worin die erzählenswerten Leiden eigentlich bestehen. "Es ist gar nicht so schlimm, wenn man rechtzeitig ausweicht", ist das Rezept der Ich-Erzählerin gegen die sprücheklopfenden Männer. Dieses Ausweichen hat der Roman perfektioniert. Er ist sämtlichen ästhetischen Problemen, die sich bei einem solchen Unternehmen stellen, aus dem Weg gegangen und deshalb weder authentisch noch literarisch.


Quelle: Pool Feuilleton
Nichts ist so aufregend wie das allmähliche Übergleiten einer revolutionären Stimmung in die komplette Ordnung.

Gertraud Klemm erzählt in ihrem Roman "Herzmilch" von einer Frau, die es wieder einmal ganz anders machen will und prompt im Hafen des verordneten Lebens landet. Wenn etwas von vorneherein schief geht, hilft nur ein ironischer Ton, um die Story halbwegs erträglich zu machen.

Die Ich-Erzählerin kommt als hellwaches Kind auf die Welt und erkundet die Welt nach eigenen Grundsätzen. "Wenn ums Eck ein Käfer liegt, werde ich einen Mann mit blauen Augen heiraten." (9) Natürlich gehen solche Spiele in der Realität ganz anders aus. Bald einmal stellt sich heraus, dass die Geschlechterrollen den größten Einfluss auf das Leben haben. "Das Loch zwischen den Beinen bringt ständig Gefahr!" (44) Tatsächlich lauert überall die Gefahr eines sexuellen Übergriffs im Gebüsch, andererseits ist man erst eine Frau, wenn der Penis eingedrungen ist. (69)

Die Erzählerin quält sich durch die Bildungseinrichtungen, das Gymnasium ist ein graues Maul, in dem man täglich verschwindet, vom Studium bleibt vor allem der Professor hängen, der darauf hinweist, dass so eine Ausbildung 75.000 EUR kostet und man anschließend nichts damit anfangen kann.

Aber auch die diversen Arbeits-Rollen haben einen unterschiedlichen Preis, die Affenscheiße von Alten wegputzen bringt nur die Hälfte von dem, was als Verdienst möglich ist, wenn man sich als Kellnerin angaffen und abgreifen lässt.

"Die Geschlechtsreife ist eröffnet, eine Tür, durch die sie alle kommen werden: der Stierler, der Bohrer, der Sammler, der Händewascher, der Rammler, der Streichler, der, dem vor allem graust, der Forscher." (71) Diese Typen können auch ordentlich Schreck einjagen und am Höhepunkt der Angst enttarnen sie sich vielleicht als harmlose Jäger, die mit einem Allrad hinter einem Gebüsch warten.

Nach schweren Monaten der Bulimie, für die vor allem die väterlichen Psychiater noch einmal alle Gerätschaften auspacken, taucht schließlich der Südtiroler Andre auf. Er ist vielleicht gar nicht der Vater von Lenchen, das jetzt geboren wird, aber er zieht auf jeden Fall einmal ein, um die Familie abzurunden. "Aus Herzmilch ist Butter geworden." (222) In einem Epilog stehen die Mütter am Rand eines Schwimmbeckens und sehen den Kindern beim Schwimmen zu.

Gertraud Klemm erzählt mit der Präzision eines Mahlwerks vom Zerreiben der Seele und der Pulverisierung der Träume. Nur mit lapidarer Kaltschnäuzigkeit lässt sich das Schicksal einer empfindsamen Seele erzählen, die durch den Trichter der Trivialität geschüttet wird, immer der Schwerkraft entgegen.

Helmuth Schönauer


Literaturhaus Wien:
Schonungslos, geistreich, witzig

"Da bin ich und um mich und über mir und vor mir die Frau."

"Ich träume Frauen, die wie Lurche an Land gehen und atmen lernen." So der Einstieg des Romans Herzmilch, in dem eine streitbare und kompromisslos offene Ich-Erzählerin mit reicher Lebenserfahrung sich auf die Suche nach Bestimmung und Situation der Frau macht. Zwei Generationen früher lässt Ingeborg Bachmann ihre Undine sagen: "Ich bin unter Wasser. Bin unter Wasser." Sie sagt das, nachdem sie in die Fluten zurückgekehrt ist, wohl wissend, dass sie wieder auf die Lichtung kommen wird, um einen Hans zu treffen. Was den Monolog Undines und den Roman verbindet, ist das poetische Motiv: Frauen - sozusagen Geschöpfe aus einem anderen Element - habe 2000 n es mehr als schwer in der von Männern gestalteten Welt; Phasen, in denen "sie die Luft und die Sonne genießen" und "in knackige Blätter beißen", sind kurz; "am Ende des Traums kehren sie immer wieder ins Wasser zurück" (S. 5).

Auf ihrer Suche nach einem ehrlichen, stichhaltigen und tragfähigen Selbstverständnis von Frau-Sein greift Gertraud Klemm mit beiden Händen ins pralle Leben. Indem sie zügig, bisweilen atemlos die Sozialisation eines weiblichen Menschen über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren erzählt, durchleuchtet sie zeitlich und räumlich wesentliche Bereiche und Herausforderungen im Leben einer Frau. Einem ungefähren Sieben-Jahresrhythmus folgend ergeben die insgesamt 40 kurzen Kapitel fünf Abschnitte, die Assoziationen an die fünf Akte einer klassischen Tragödie wachrufen: Auf eine Art Exposition folgt die Pubertät, in der "nichts mehr an seinem Platz sitzt" (S. 53); der dritte Abschnitt gehört dem Biologiestudium und der folgenschweren Beziehung zum Studienkollegen André, bevor im nächsten das Frau-Sein in Beruf und Gesellschaft unters Mikroskop gelegt wird; im letzten Abschnitt dreht sich alles um Schwangerschaft, Geburt und das Leben einer alleinerziehenden Mutter. Ein Epilog schließt den Bogen, den der Traum von Frauen, die "an Land gehen und atmen lernen", eröffnet hat.

Im ersten Kapitel stellt sich die Ich-Erzählerin als Mädchen der Siebzigerjahre vor, dessen Blick auf das Leben von einem außergewöhnlichen Interesse an Biologie gelenkt wird. Sie wächst mit ihrem Bruder in einem großen Gründerzeithaus einer Kleinstadt auf - die Biografie der Autorin und so manche Details deuten auf Baden -, in dem sechs Erwachsene und sieben Kinder leben.
"Ich laufe neben dem Leben der Eltern her. Die warten nicht, bis ich mir alles ganz genau angesehen habe. Die ziehen mich weiter. [...] Mein Leben ist Zitroneneis, die rotglänzende Jausentasche mit dem Drehverschluss, die vielen Kinder und Katzen. Es ist der müde tretende Käfer, den ich im Staub beobachten kann. Es ist der Häuserblock, den ich mit den Rollschuhen umrunden kann. Es ist meine schnittlauchgerade Stirnfransenfrisur, die ich mir nicht ausgesucht habe." (S. 9ff.)
Am Ende des ersten Kapitels das Programm des Romans: "Meine Mutter freut sich, dass ich eine kleine Frau werde" (S. 12). Darum dreht sich in den folgenden 39 Kapiteln alles.

Vom ersten Satz an entwickelt der Text einen Sog, der mehrere Ursachen hat. Die Ich-Erzählerin - im ersten Abschnitt noch ein Kind - ist sympathisch, liebenswert, verdient ungeteilte Zuneigung. Ihr Erzählen ist kurzweilig, lebendig, sprudelt quellfrisch dahin in einem einzigartigen Ton, der sich - der Erzählperspektive entsprechend - dem Alter der Ich-Erzählerin jeweils anpasst, sein reizvolles Timbre aber nie verliert.
In deren ausgeprägter Beobachtungslust liegt ein weiterer Reiz des Buches. "Mit gedrehtem Kopf und hinter den Eltern herstolpernd nehme ich das Leben wahr" (S. 11). Dieses Bild aus der Exposition verdichtet die Betrachtungsweise der Ich-Erzählerin: Auf den scharfen Blick folgt immer eine präzise Analyse des Gesehenen, und die ist schonungslos. Sie nimmt sich gesellschaftliche Phänomene ebenso vor wie all die spezifischen Gegebenheiten, die Frauen das Leben schwer machen, sie zurücksetzen, ihnen vieles von dem vorenthalten, was für Männer gegessen ist. Der analytische Blick stöbert Winkel unseres Lebens auf, die in der Regel verstellt sind, ausgeblendet bleiben oder einfach übersehen werden. Ein Kriegerdenkmal in einem Dorf beispielsweise löst Fragen über Fragen aus: "Ich werde daran erinnert, dass Männer im Krieg gestorben sind, alleine und verwundet in der Fremde. Das muss ich denken. [...] Ich werde nirgends daran erinnert, dass Zivilisten, Alte, Frauen, Kinder auch eine abscheuliche Zeit hatten. [...] Sie sind die Opfer zweiter Klasse. Sie bekommen kein Denkmal, weil sie unehrenhaft gelitten haben, weil sie einfach nur daheim vergewaltigt oder totgebombt worden sind oder verschüttet oder verschleppt und in Arbeitslagern krepiert. (S. 176f.)

Viele Erfahrungen, die über die Ich-Erzählerin hereinbrechen, bloß weil sie eine Frau ist, haben mit dunkler bis abwegiger männlicher Sexualität zu tun. Sie reichen vom Servieren beim Heurigen bis zum Exhibitionisten in der U-Bahn und machen zornig: "Aber etwas muss passiert sein, vorher. Etwas hat uns so kaputt gemacht, dass wir nicht geschrien haben. Dass wir uns schämen, obwohl sich die Täter schämen müssten." (S. 110)
Das Aufstöbern von Irritierendem mündet häufig in Sätze, die innehalten, nachdenken und prüfen lassen: "Erwachsensein ist ein trüber Schwall, der mir aus der Zukunft entgegenschwappt: du musst, du sollst, du wirst einmal, du wirst schon noch." (S. 61) - "Zuhören geht einfach nicht, Zahlen und Worte purzeln aus den Mündern der Lehrer an meinem Ohr vorbei." (S. 63) - "Seit die richtige Freundin ausgezogen ist, habe ich die ganze Wohnung für mich und finde keinen Raum." (S. 133) - "Es reicht nicht sich einzureden, man könne alles und müsse es nur wollen." (S. 182) - "Wir Frauen lehnen uns nicht auf, weil wir die Kinder und die Alten opfern müssten." (S. 222) - "Während wir uns über soziale Missstände und die Ausbeutung der chinesischen Facharbeiterinnen erregen, kehren wir die eigene Arbeit eine Stufe hinunter." (S. 228)

Sätze wie diese lassen Herzmilch - abgesehen von seiner emanzipatorischen Kernanalyse - zu einem durch und durch politischen Buch werden, das jede Menge systemische Missstände bloßlegt.
Die Suche nach Bestimmung und Situation der Frau führt die Autorin zu einer vielschichtigen Diagnose. Schon das Mädchen der Volksschulzeit, dessen "größtes Talent Schämen" (S. 11) ist, zieht aus seinen Beobachtungen Schlüsse, die beunruhigen: "Ich will zwar einen schönen Zopf, aber ich will nicht zu diesen Mädchen dazugehören, denen so vieles verwehrt wird. Buben sind mobil, sie verteilen sich rasant auf der Welt, aus ihnen entspringen Männer, Macht, Geld, und immer wird nur aus Männermündern geredet." (S. 43)
Das "traurige Mädchen mit coupierten Wünschen" (S. 77) stellt in seiner Gymnasium-Zeit fest: "Mein Horizont ist nicht frei, weil große Päckchen herumstehen. In den Päckchen sind die Kinder, die ich haben wollen muss. Nicht jetzt, später. [...] Es sind Geschenke, die ich noch auspacken muss. Und schätzen lernen, und wollen. Später. Aber nicht zu spät! Man muss nur lieben wollen." (S. 62)
Als es soweit ist, dass "der Alltag die Männer in ihr Leben spült" (S. 134), räsoniert die Biologie-Studentin: "Der perfekte Mann wäre der, den ich aus den besten Eigenschaften zusammensetzen könnte, sozusagen ein Tortenstückmann. Mit dem würde ich eine Familie wagen. Eine dumpfe Sehnsucht klopft, wenn ich an das Wort Familie denke." (S. 135)

Schwangerschaft, Geburt und das Leben als alleinerziehende Mutter - das ermöglicht noch jede Menge Beobachtungen und Analysen auf der Suche nach einer Diagnose dafür, warum alles so ist, wie es ist für die Frauen in dieser Welt. Am Ende steht eine Einsicht, die auf Resignation schließen lässt: "Alle Unterdrückten erheben sich irgendwann. Nur die Tiere und die Frauen nicht. [...] Es wird keinen Aufstand geben, denn niemand wird den Kampf für die Frauen kämpfen. Am wenigsten die Frauen selbst. Sie wissen nicht, dass sie in einem Krieg sind, den sie schon verloren haben. [...] Sie wollen nichts vom Leben, bekommen nichts vom Leben und beklagen sich nicht. [...] Sie wollen selbstbestimmt sein, aber die Farbe des Schals muss zur Handtasche passen. [...] Am besten, sie geben ihr Wahlrecht und ihren Anspruch auf Kreditkarten und Ausbildung zurück." (S. 165f.)

Ein nachvollziehbarer Befundkatalog, der aber - und das gibt dem Text einen weiteren Reiz - auch Raum lässt für kaum Erklärbares, leitmotivisch "verpackt" im Wort "Muttertier": "Das ist das Geheimnis, der richtige Partner müsste es sein, der taucht die Finger in die Seele der Frau und zaubert das Muttertier heraus." (S. 162) Als die Schwangerschaft feststeht, läuft alles Weitere wie auf Schienen 1610 ab: "Ein paar Wochen später hat das Muttertier schon alles arrangiert. Das Muttertier ist an meine Stelle getreten, es ist ein kühles, aufgeräumtes Ich." (S. 187) Und es dürfte auch dieses "Muttertier" sein, das schließlich der Tochter den lange vorenthaltenen Vater gibt und alle drei so nahe zusammenführt, "wie sie zusammen gehören": "Die Idylle spült alles weich. Sie strömt über den Wannenrand und aus dem Badezimmer und füllt den Raum bis zur Decke. Sie ist so mächtig, dass ich die Fenster öffnen muss und die Türen." (S. 226)
Die ernüchternde Thematik ist der Autorin aber zu wichtig, um sie in einer Familienidylle aufzulösen. Der Epilog träumt eine "Revolution", die "zusammengerollt hinter den sanften Hügeln des Alpenvorlandes schläft": "Die Kinder sind uns schon voraus und krabbeln mit ihren ausgekühlten Körpern gerade auf die nachmittagswarmen Väter, wir können sehen, wie sie sich winden, wie sich ihre Gesichter verziehen und ihre nachmittägliche Ruhe empfindlich gestört ist. Sogar ihre empörten Schreie dringen durch den Geräuschteppich zu uns." (S. 237)

Mit dem Titel des Buches, dem symbolträchtigen Kompositum Herzmilch, führt der Text ins thematische Zentrum. Es taucht erst in der Endphase des Romans auf, bietet sich als Erklärung für den Schmerz der alleinerziehenden Mutter an, die akzeptieren muss, dass "[...] Lenchen heult und schreit, weil sie noch nicht genug Vater bekommen hat, [...] weil sie den, der sie gar nicht haben wollte, jetzt so bedingungslos liebt, wie nur ein Weib nach allen Seiten lieben kann. [...] Ein Pfahl steckt quer durch unser ganzes Leben und die Herzmilch spritzt in Fontänen heraus." (S. 219f.)
Auf den noch folgenden Seiten diagnostiziert Gertraud Klemm das existentielle Dilemma von Frauen: "Die Frau braucht einen Knochen im Herzen. Damit der das Herz hart macht. Das Herz darf nicht so weich sein, weil sonst die Männer und die Kinder das Herz in die Faust nehmen und es drücken. Heraus kommt die Liebe, die nie genug sein kann." (S. 229)

Mit erstaunlichem Mut, mit wilder Entschlossenheit und Humor fasst Gertraud Klemm das Thema Frau-Sein an und gibt ihm mit viel Witz eine bekömmliche, bisweilen aber auch beklemmende Frische. Hinzu kommt, dass die Lust an politischen Analysen auch zu zahlreichen gesamtgesellschaftlichen Befunden führt. So rufen die vielerorts aus dem Boden schießenden Reihenhaussiedlungen Bilder von Container-Clustern ab: "Der Container steht neben vielen anderen Containern auf einem Schiff irgendwo. Was mit den Schiffen geschieht, bestimmen die Anzugmänner. Unsere Freundschaft ist unter diesen Gesetzmäßigkeiten verschüttet. Das haben wir zugelassen. So funktionieren wir. Unser Zusammenhalt hat nichts mit Geborgenheit zu tun. Es hat etwas mit Praktischsein zu tun. Mit lauter Einsamkeiten in einem gigantischen Rudel." (S. 167)

Gertraud Klemm hat mit Herzmilch ein starkes episches Getränk gebraut; es bezieht seine Würze nicht zuletzt aus einem Reichtum an Metaphern, die das Leben immer wieder treffsicher auf den Punkt bringen. Das Kind der Kindergarten- und Volksschulzeit "watet durch die Zeit des Vormittags wie durch einen Teig" und tritt "an den Nachmittagen aus dem Loch ans Licht" (S. 27), "wirft seine Gedanken ins Wasser, bis keine mehr da sind" (S. 29) und "verschwindet hinter seinem Herzklopfen" (S. 41). Solche Bilder, die brisante Thematik und die Tatsache, dass in keiner Zeile Rezepte anzutreffen sind, machen das Lesen kurzweilig, unterhaltsam und anregend. Fazit: ein mehr als bemerkenswerter Roman, auf den so manche Leserin - und hoffentlich auch viele Leser - schon gewartet haben.

Herbert Först
Februar 2014
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
15148 DR.E, Kle

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