Die guten Tage : Roman

Dinic, Marko, 2019
Bücherei Zams
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-05911-5
Verfasser Dinic, Marko Wikipedia
Systematik DR.B - Biographische Romane, romanhafte Biographien
Schlagworte Flucht, Krieg, Österreich, Erzählende Literatur: Gegenwartsliteratur ab 1945, Wien, Migration, Autobiografie, Exil, Balkan, Jugoslawien, Debüt, Emigration, Diaspora, Serbien, Belgrad, Bombardement, Bomben, Gastarbeiter, jung, Milosevic
Verlag Zsolnay, Paul
Ort Wien
Jahr 2019
Umfang 240 Seiten
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Annotation In einem Bus, dem täglich zwischen Wien und Belgrad verkehrenden "Gastarbeiter-Express", rollt der Erzähler durch die ungarische Einöde. Jener Stadt entgegen, in der er aufgewachsen ist. Die Bomben, der Krieg, Miloševic, den er zuerst lieben, dann hassen gelernt hat, und der Vater, für dessen Ideologie und Opportunismus er nur noch Verachtung empfindet, hatten ihn ins Exil getrieben. Entkommen ist er dem Balkan auch dort nicht. In beeindruckenden Bildern erzählt Marko Dinic zwanzig Jahre nach dem Bombardement von Belgrad von einer traumatisierten Generation, die sich weder zu Hause noch in der Fremde verstanden fühlt, die versucht die eigene Vergangenheit zu begreifen und um eine Zukunft ringt.

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten, Renate Langer
Ein zorniger junger Mann fährt von Wien in die Heimat seiner serbischen Familie, erinnert sich an seine Kindheit im Krieg und klagt die Vätergeneration als Verbrecher an. (DR)

Vulgär, brutal, großkotzig. Stinkende Kettenraucher. Frauen verachtende Machos. Am Sliwowitz hängende Spiegeltrinker. Wer die Passagiere im Überlandbus von Wien nach Belgrad so beschreibt, muss selber Serbe sein. Andernfalls würde man ihm unterstellen, er schüre übelste Vorurteile gegen die "Balkanesen". Der in Belgrad aufgewachsene Marko Dinic darf sich diesen schonungslosen Blick erlauben, zumal er auch zu sanfteren Tönen fähig ist. So schildert er die Geduld und Demut vieler Gastarbeiter, die sich kaputtrackern, um ihren Kindern ein besseres Leben in Deutschland oder Österreich zu ermöglichen. Der junge Ich-Erzähler, der nicht mit dem Autor in eins zu setzen ist, fährt mit dem Bus in das Herkunftsland seiner Familie, um am Begräbnis seiner Großmutter teilzunehmen. Die Reise weckt in ihm traumatische Erinnerungen an den Balkankrieg, der seine Kindheit überschattete. In nächtlichen Gesprächen mit einem mysteriösen, vielleicht nur geträumten Sitznachbarn, der vermutlich Schriftsteller ist, rechnet der Erzähler jedoch vor allem mit seinem Vater ab: Der Ministerialbeamte hat alle Regierungswechsel seit Tito unbeschadet überstanden und sich vom Kommunisten zum orthodoxen Nationalisten gemausert. Als "stummer Schurke, eines jener gesichtslosen Exemplare, ohne die kein von Menschen gemachtes System langfristig überleben könnte", vertritt er eine Generation, die "in den Neunzigern viel Scheiße gebaut" hat. Hinter dieser Formel verbergen sich nicht nur Eigennutz und Rückgratlosigkeit, sondern auch ungesühnte Kriegsverbrechen.

Bei so viel Zorn und Bitterkeit sollte man den Grundton der Zärtlichkeit und tiefen Trauer in diesem Buch nicht überhören. Der 1988 geborene, heute in Wien lebende und auf Deutsch schreibende Marko Dinic versteht es, intensive und auch widerstreitende Gefühle mit großer Sprachkraft zu beschwören. Sein Romandebüt etabliert ihn als bedeutende Stimme der jungen Gegenwartsliteratur.

Quelle: LHW.Lesen.Hören.Wissen, Markus Fritz
Der Ich-Erzähler befindet sich im so genannten Gastarbeiter-Express von Wien nach Belgrad, einem Reisebus, der täglich von Österreich nach Serbien pendelt. Zu Beginn des Buches beschreibt er die Insassen: In den vordersten Reihen sitzen Männer zwischen 50 und 60, denen man den Alkoholkonsum und das jahrelange Schuften auf österreichischen Baustellen anmerkt. Ihr Lebensinhalt besteht darin, so viel Geld zu verdienen, um sich zu Hause ein Haus bauen zu können. Die Frauen sitzen still und unbeteiligt. Der Sitznachbar ist ein undurchsichtiger skurriler Typ, den er nur schwer einordnen kann. Ist er wirklich - wie er behauptet - ein Elektriker, oder doch ein Schriftsteller, der um zu recherchieren nach Serbien fährt? Sie reden über Serbien, die Vergangenheit und den Krieg und der Nachbar warnt ihn: "Wir befinden uns unter potentiellen Mördern". Jeder der Mitreisenden könnte ein Kriegsverbrecher sein. Während der langen und eintönigen Busfahrt hat der Erzähler viel Zeit nachzudenken. Er erinnert sich an die Kindheit und Jugend, an den Krieg der NATO gegen Serbien, an den allseits verehrten Retter des Landes Milosevic, der später als Kriegsverbrecher verurteilt wird und der von Teilen der Bevölkerung immer noch als Held gefeiert wird. Und er denkt an den verhassten Vater, der ursprünglich ein glühender Kommunist, dann ein ebenso glühender Anhänger von Milosevic war, der von einem großserbischen Reich träumt und der jetzt ein angepasster Beamter im Innenministerium ist. Der Sohn ist gleich nach dem Krieg nach Wien geflüchtet, nicht zuletzt, um sich vom Vater loszureißen. Jetzt wird er von der Vergangenheit eingeholt und ist auf dem Weg zum Begräbnis der geliebten Großmutter.

Es passiert nicht viel auf dieser Reise, das meiste spielt sich im Kopf der Hauptfigur ab. Der Roman überzeugt durch seine schonungslose Aufarbeitung der Vergangenheit und vor allem durch die bildmächtige Sprache. Für große Bibliotheken geeignet.


Literaturhaus Wien:
Der "Gastarbeiterexpress" rollt über die ungarische Autobahn, von Österreich nach Serbien, die Fahrgäste im Bus haben vor allem eines gemeinsam: Sie haben ihre Heimat verlassen und sind jetzt auf dem Weg zurück dorthin, für einen kurzen Besuch oder ein Familientreffen, vorübergehend. Und einer kehrt nach zehn Jahren erstmals wieder nach Belgrad zurück: passiert die Grenze in die eine Richtung, wo vor Kurzem noch Geflüchtete in die andere Richtung wollten.

In Marko Dinic' Debütroman "Die guten Tage" kommt keine Nostalgie auf, wenn der Ich-Erzähler sich an das Schuleschwänzen, Grasrauchen und Biertrinken erinnert, Treffpunkte in einem verkommenen Belgrader Vorstadtviertel. Ohnmächtige Aggression und der Hass auf die Väter, die Lehrer, die Männer vor allem, die nicht zu Identifikationsfiguren geworden sind in einem Land, in dem der Krieg noch nicht lange vorbei ist und die Kindheitserinnerungen mit Bomben verknüpft. Wer was im Krieg getan hat, wird vom Schweigen umhüllt. Ein nur allzu bekanntes Muster.

Der Ich-Erzähler ist kurz nach dem Schulabschluss ausgewandert, alleine, hat in Wien ein neues Leben begonnen – und wird doch das alte nicht los. In Wien wird er gefragt, wen er hasst: Kroaten, Albaner, Bosnier? Der Hass auf die eigenen Väter und Großväter, die das Land dorthin gebracht haben, wo es ist, ist da schon weniger vorgesehen, dafür umso präsenter im Roman. Orientierungslosigkeit ist Programm, nicht als Auswirkung der Migration, sondern als Ursache dafür. Der Erzähler ist noch kaum in Belgrad angekommen, da will er auch schon wieder weg.

Desillusioniert und zynisch beschreibt er seine Mitreisenden im "Gastarbeiterexpress", erinnert er sich an seine Jugendzeit in Belgrad, an halbstarke Rebellion gegen das Machopatriarchat, die ihrerseits die nächste Generation an Machos hervorbringt. Der Sitznachbar aus dem Bus, der "einen persönlichen Krieg gegen alle und niemanden zu führen" scheint, wirkt wie ein Alter Ego des Ich-Erzählers, wie der Teil des Selbst, den dieser gerne loswerden möchte.

Und doch sucht er das Belgrad, das er vor zehn Jahren verlassen hat. Die Stadt aber hat sich verändert und die Menschen mit ihr. Der Anlass für die Rückkehr ist ein trauriger: das Begräbnis der Großmutter, der einzigen Vertrauten in der Familie, der "Mäzenin", die mit ihren Ersparnissen dem Enkel das Auswandern ermöglicht hat. Der Vater ist gebrechlich geworden, taugt nicht mehr so recht als Hassobjekt, die Verhältnisse haben sich geändert.

Durch den ganzen Roman zieht sich eine Zerrissenheit, ein Hin- und Her Geworfensein, das sich durch stete Schwenks zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Begegnungen im Bus, de 12cc r Schule, der Familie oder auch dem Umfeld in Wien (das aber wenig Gestalt annimmt) auch formal manifestiert. Es ist alles gleichzeitig da und nichts wirklich vergangen. Die Erinnerungen sind weitaus lebendiger (erzählt) als die Gegenwart.

Das alte, gewohnte, verhasste Belgrad hat der Ich-Erzähler mitgenommen nach Wien, es wird auf der Reise zurück wieder lebendig, doch hält es der Ankunft nicht stand. Je näher der Bus an Belgrad herankommt, desto präsenter wird das Leben in Wien, die Arbeit in der Bar, ganz okay, aber auch nichts, was er nicht missen möchte, nichts, was ihn hält.

Dinic erzählt von einer verlorenen, wütenden Generation, der man die Zukunft verbaut hat, die keinen Halt findet, den Staat und die Eltern hasst und auch sich selbst, weil sie mit diesem Staat und diesen Eltern so verbunden ist. Es ist ein Generationenkonflikt und eine Abrechnung mit Krieg und Nachkriegszeit, dem Schönreden und Verschweigen von Verbrechen, dem Drücken vor Verantwortung, ein österreichisches Thema in einer neuen Variation.

Vor dem Selbst lässt sich ebenso wenig davonlaufen wie vor der Herkunft, der Vergangenheit oder der eigenen Familie. Aber die Perspektiven lassen sich verschieben und werden auch verschoben durch Zeit und durch Distanz: Die Eltern, vor allem der Vater, sind in den vergangenen zehn Jahren nachgerade geschrumpft, beinahe könnte der Hass schon einem – angewiderten – Mitleid weichen.

Der Ich-Erzähler bringt der Großmutter den Ehering seines Großvaters ans Sterbebett zurück, nachgerade ein Symbol für das, was ihn mit seiner Familie verbindet, für seine Vergangenheit, sein Aufwachsen in einem Umfeld, dem er nun erneut seine Verachtung so tief in den Rachen stopft, "dass ein lebendiger Mensch wohl daran erstickt wäre". Mit der Großmutter wird begraben, was den Ich-Erzähler mit seiner Familie verbindet. Seine Eltern sind ihm fremd, die Verwandten empfindet er als feindselig.

Sein Hass richtet sich vor allem gegen ein Lebensgefühl, das ihn nicht loslassen will. Der Roman ist eine Abrechnung mit der Perspektivlosigkeit einer Generation, der man die Zukunft geraubt hat. Der Krieg hat Menschen, Städte und Illusionen zerstört. Dieser Zerstörung lässt sich nicht entkommen, schon gar nicht durch "ewiges Gastarbeitertum".
Es gibt ein Weggehen, aber kein Ankommen.
Noch nicht.

Sabine Dengscherz
18.2.2019
Bemerkung Katalogisat importiert von: Deutsche Nationalbibliothek
Exemplare
Ex.nr. Standort
14087 DR.B, Din

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